24
Apr
2010

Die Unvollkommenen (Fred)

"Sie waren im Licht gefangen."

Nachmittag, auf Dreckloch

Seit Jahrzehnten haben wir jedes Artefakt in zwanzig Lichtjahren Umkreis dreimal umgedreht. Wir haben Linguisten auf jeden bewohnten Erdklumpen zu jeder bekannten sapienten Spezies geschickt. Wir haben jede Legende, jedes Stück Geschichte, jede Technologie, Kunst, jedes Stück Kultur in unser Raster einzuordnen versucht.

Die Legenden sprechen eine klare Sprache. Die "Unvollkommenen" sind vor mehr als hunderttausend Jahren in dieser Gegend dominant gewesen. Will man den Beschreibungen glauben schenken, haben sie der Gegend nur Segen gebracht. Unter ihrer Ägide sind viele Probleme einfach verschwunden. Sie sind Göttern gleich auf vielen zivilisierten Welten aufgetaucht, und haben - nun ja - fast Wunder gewirkt.

"Wunder" ist ein starkes Wort. Aber wie nennt man die Lösung von so vielen Problemen? Die Verhinderung der Auslöschung einer gesamten Planetenpopulation durch behutsames bugsieren durch ein Wurmloch in ein anderes, geeignetes System? Die Lösung eines alten Konflikts, der fast zu einem vernichtenden Krieg geführt hätte? Wie nennt man die anderen Dinge? Armut, die über Nacht verschwindet? Umweltprobleme, die auf einmal so gelöst werden?

Sie haben ihre Lösungen niemandem aufgezwungen. Sie waren einfach da, immer freundlich und bemüht, und haben sich die Anliegen der anderen Völker angehört. Bei Bedarf haben sie ihre Hilfe angeboten. Niemals haben sie sich aufgedrängt. Doch eines Tages waren sie weg.

Jetzt stehen wir da, auf 29939848756 (von den Einheimischen 00-00-01 genannt, inoffiziell sagen wir "Dreckloch" dazu) und fragen uns, was diese Inschrift bedeuten soll.

Nun ja, es ist keine Inschrift im üblichen Sinne. Da liegt kein Teil eines Triumphbogens am Boden, in dessen Marmor diese Worte in irgendeiner bekannten oder unbekannten Schrift graviert sind. Sondern das Magnetfeld des ganzen Planeten ist in einer so subtilen Weise verändert, daß diese Botschaft in ihm zu erkennen ist. Die Anomalie des Magnetfeldes - ich verstehe ja nichts davon, aber es wurde mir so erklärt - besteht in dieser komischen Spin-Umkehr, die rhytmisch stattfindet.

Wir machen uns keinen Reim daraus. Angeblich sollen die "Unvollkommenen" gesagt haben, daß sie sich hier niederlassen. Und sie haben verboten, sie hier zu besuchen. Hä, Hä. Uns haben sie es nicht verboten, sie kennen uns ja nicht einmal. Daher sind wir jetzt da.

Unter unseren Füßen erstreckt sich Wüste. Ein dunkelblauer Himmel erstreckt sich bis über den nahen Horizont. Der atmosphärische Druck beträgt nur 0.2 bar. Wir brauchen Schutzanzüge. Nicht nur wegen des Drucks. Es ist erbärmlich kalt hier. Doch alle paar hundert Meter wird die Eintönigkeit der Wüste durch einen Wurm-Turm unterbrochen. Wurm-Türme sind Aufschüttungen, etwa zwei bis drei Meter hoch. Nähert man sich ihnen, entdeckt man, daß sie von weißen, schleimigen Würmern bewohnt werden, die praktisch die gesamte Oberfläche so eines Haufens bilden.

Außer diesen Würmern und einigen anderen niedrigen Organismen haben wir nichts gefunden, insbesondere nichts, was auf Intelligente Lebensformen schließen läßt.

Ich habe jetzt die Oberfläche reichlich genossen. Auf zur Arbeit. Ich habe die Aufgabe, jedes Lebenszeichen nach intelligenter Kommunikation zu prüfen. Aber außer den Ausdünstungen der Würmer haben wir nichts gefunden.

Abend, auf Dreckloch

Ich sitze da und frage mich, was das alles soll. Wir sind keinen Schritt weiter. Die Würmer winden sich träge weiter, und wir machen es ihnen gleich. Keiner der Würmer kommt raus und sagt "Hallo, ich bin Fred, und ich finde eure DNA einfach geil!". Oder wenigstens "Ich bin nicht Fred, kenne keinen Fred, und deine DNA kannst du dir in den Arsch schieben". Zwar wäre erstere Reaktion freundlicher, aber vom professionellen Standpunkt aus sind sie ziemlich gleichwertig – und ziemlich gleich unwahrscheinlich.

Nächster Mittag, immer noch auf Dreckloch

Immer noch sitzen wir auf Dreckloch fest. Die Würmer winden sich immer noch, die Wüste ist noch immer ziemlich tot, und der Himmel ist noch immer dunkelblau. Fern sticht die lokale Sonne über die entsetzliche Distanz bis hier her.

Doch etwas ist passiert. Ein Computer meldet einen Defekt. Die Diagnose hat "ein umgefallenes Bit" entdeckt, wie ein Techniker sich ausdrückt. Ich stelle mir ein Bit mit dummem Gesicht im blauen Anzug vor, das zu mir sagt "Hallo, mein Name ist Fred, und ich finde eure Daten zum Umfallen Geil". Gott, ist das langweilig.

Abend, ratet einmal, wo

Es ist langweilig. Ich habe zum Spaß die Sonnenstrahlung nach intelligenten Signalen untersucht. Die Sonne hat mir daraufhin erzählt, daß sie Fred heißt, und unsere Sonnenschutzfolien überhaupt nicht amüsant findet...

Nein, nicht ganz. Die Sonne hat nichts erzählt. Sie hat geschienen, und das nicht zu schlecht, mit hohem UV-Anteil. Ich versuche weiterhin, mich bei Laune zu halten.

Früh am Morgen

Wir wurden über Rundruf darüber informiert, daß wir alle Arbeiten innerhalb einer halben Stunde einstellen sollen, weil ein systemweiter Check aller Anlagen vorgenommen wird. Großartig. Ich hätte die nächsten zwei Stunden geschlafen. Jetzt bin ich wach, langweile mich, und kann nicht das Geringste dagegen tun, weil sämtliche Systeme gesperrt sind. Wie überaus rücksichtsvoll vom Boss!

Spät am Morgen

Der Systemcheck dürfte ohne Probleme über die Bühne gegangen sein, denn alle Systeme wurden wieder freigegeben. Großartig, ich versuche gerade, dem Dünenverlauf intelligente Kommunikationsversuche unterzuschieben. Die Dünen versuchen krampfhaft, mir irgendetwas mitzuteilen. "Ich b. b. bbb. bin F. F. Fr. Frr. Fred!" sagen sie, "D. D. D.. Du b. b. bist ss. s. s. se. s. sehr r. r. r. rücksichtslos mit deinen Stiefeln!"

Die Dünen sind genauso gesprächig wie die Sonne.

Nachmittag, immer noch da

Nachdem auch das Mittagessen nicht viel intelligentes zu kommunizieren wußte, mache ich jetzt etwas wahrhaft idiotisches: Ich filme das Wurmgewusle und analysiere es. Das Signal ist komplex und vielfältig. Natürlich springen sämtliche Algorithmen und Heuristiken sofort an. Ha. Sie werden sich ein paar Minuten anstrengen und schließlich beruhigen.

Abend, ganz baff

Der Computer meint, daß da definitiv willentliche, nicht triviale Muster zu erkennen sind. Ich gehe rüber in die Biologie und frage die Typen, wie die Würmer gesteuert werden. Zunächst schauen sie mich etwas mitleidig an. "Das sind Würmer, keine ferngesteuerten Rennautos!". Aber ich insistiere, daß es eine Signalisierung zwischen den Würmern geben muß. Die Typen mit den mitleidigen Gesichtern nehmen meinen Einwurf schließlich doch ernst, und stellen fest, daß es so etwas wie ein induktive Wirkung geben muß. Aber wir messen keine Radiosignale oder sowas, daher kann dieser Mechanismus nicht in Frage kommen.

Später Abend, ganz frustriert

Ein Mathematiker hat sich die Muster angesehen. Er sagt, es handelt sich nicht notwendigerweise um intelligentes Verhalten. Er zeigt mir ein paar Beispiele sehr dummer Lebensformen, die sich scheinbar intelligent verhalten. Ich mit meinen blöden Flausen. Warum kann ich nicht einfach ruhig bleiben, und mir solche Enttäuschungen ersparen?

Morgen, gelangweilt

Ich analysiere unser Schiff. Etliche Energieformen taste ich ab, und höre das Schiff sagen "He, ich bin Fred, und ich nehme bald Antibiotika, um euch Nervensägen endlich loszuwerden..."

Das Schiff IST intelligent im Sinne der Kommunikation, die es durchführt. Es ist nicht intelligent im Sinne der Lernfähigkeit. Ich betrachte es als Übung. Ich führe ein paar Scans durch, korreliere sie - dann renne ich zu den Typen in der Biologie, und rufe durch die Tür: "Sensation, das Schiff ist intelligent!!!" Die Typen, die sich jetzt in meiner Vorstellung eingentlich vor Lachen krümmen sollten, schauen mich mehr verständnislos als mitleidig an. Können sie nicht wenigstens sagen "Mein Name ist Fred, hau ab"? Pfeif drauf.

Vormittag

Ich sehe eine Analyse, die mir bekannt vorkommt. Es ist das Ergebnis des Wurmgewusels. Na, Moment, da habe ich wohl das falsche File erwischt. Ich wiederhole die Sache. Das Signal bleibt gleich. Ich hab leider keine Ahnung, was ich da genau erwischt habe, und begebe mich schnellstens in die Physik. Als ich reinkomme, meint grade eine der Anwesenden "immer diese Deppen in der Biologie.."; aber sie stoppt im Redefluß. Meine Sympathien sind ihr trotzdem sicher. Ich trage mein Anliegen vor. Die Physiker sehen den Mess-Mischmasch und klären Schritt für Schritt auf, welche Energieformen da beteiligt sind. Dann fragen sie mich, wozu ich das wissen will, und machen große Augen, als ich ihnen von den Würmern erzähle. Mit drei Physikern im Ärmel betrete ich sehr selbstbewußt die Biologische. Die Biologen sind etwas konsterniert, aber sie kooperieren bald und klären, wie und vor allem mittels welcher Organe die Würmer die besagten Signale messen.

Nachmittag

Ich hab noch nichts gegessen. Mein Magen knurrt. Sämtliche Idi... äh Wissenschafter sitzen in meinem Büro/Labor/Schlafzimmer (letzteres stört mich am meisten) und hören mir andächtig zu, wie ich versuche, so laienhaft wie möglich auszudrücken, wie ich durch gezielte Manipulationen die Reaktionen der Würmer analysieren will. Ich lasse zuerst das gesamte Standardrepertoire ablaufen. Die Würmer werden mit Inhalten bombardiert.

Nachmittag und fünf Minuten

"Achtung! Sämtliche Aktivitäten einstellen! Systemcheck!"  Ein enttäuschtes Aufheulen geht durch die kleine Menge. Ausgerechnet jetzt. Ein vorbeikommender Techniker erzählt von massenhaften Prüfsummenfehlern in mehreren Computern. Einer der Physiker klatscht sich auf die braungebrannte Denkerstirn. "Ist doch klar!". Uns ist es nicht klar, aber wir folgen ihm in den Kontrollraum. Dort sitzt der Kapitän und sieht den Technikern zu. Der Physiker legt Rücksichtslos seine Theorie dar. Unsere Signale dürften die Rechner lahmgelegt haben. Zwei, drei Versuche werden gemacht. Die Theorie hält. Die Versuche werden verboten. Ich bin sehr enttäuscht, weil ich nun nicht mehr erfahren werde, was die Würmer zu sagen haben.

Ein Nachmittag fünf Jahre später

Andere als ich sind mit veränderten Rechnern noch einmal hingeflogen und haben die Sprache der Würmer analysiert. Sie sind intelligent, das heißt, im Kollektiv. Dieses Kollektiv erstreckt sich über den ganzen Planeten. Nach jahrelangen Kommunikationsversuchen ist dann eine Debatte zustandegekommen, die im Abriß dieses zu Tage gebracht hat:

Die Würmer wollen nicht entdeckt, schon gar nicht als intelligent erkannt werden.
Sie sind die ehemaligen "Unvollkommenen". Sie haben die Probleme der anderen immer nebenbei gelöst, um ihrem Ziel näher zu kommen. Ihr Motiv ist immer das Streben nach Vollkommenheit gewesen. Vor etwa hunderttausend Jahren haben sie in einem Lösungsansatz einen Fehler entdeckt. Darauf haben sie die Vollkommenheit nicht mehr in der Interaktion mit anderen gesucht, sondern in der Isolation. Oder auch: Der Schmerz über die Unvollkommenheit ist zu groß gewesen, sie haben sich geschämt.

Die Inschrift sollte sie stets daran erinnern, daß draußen im Licht der Welt auch die Unvollkommenheit zu Tage tritt, der man nicht entrinnen kann.

Zum Schluß habe ich sie auch noch einmal besucht. Ich habe ihnen eine Frage gestellt: "Wozu wolltet ihr eigentlich vollkommen werden?".

Es scheint, daß diese Frage etwas ausgelöst hat. Sie haben nach eigener Aussage nie darüber nachgedacht. Die Antwort ist erst nach ein paar Wochen erfolgt. Und sie dürfte sie nachhaltig verändert haben. Jedenfalls haben sie dann ihre Isolation aufgegeben und weilen wieder unter uns.

Der Schluß-Gag

Sie haben mich damals gebeten, ihnen einen Namen zu geben. Das habe ich getan, und sie mögen diesen Namen wesentlich lieber als den anderen, der sie ständig an ihre Vergangenheit erinnert. Sie heißen jetzt Fred.
undercoveragent - 26. Apr, 16:24

Hey!

*Like*Like*Like*

Super, jetzt trau ich mich erst recht nicht, eine eigene Geschichte aus diesem Genre zu veröffentlichen. Danke für die Ausrede ;-)

ReserveBuddha - 26. Apr, 16:57

He wau danke :-)))

Aber das mit deiner Ausrede - da werden wir noch ein paar ernste Worte wechseln müssen, ja, das werden wir! *g*
steppenhund - 4. Mai, 19:38

Ja, das ist eine gute Geschichte. Konnte nicht aufhören zu lesen, obwohl ich schon längst abhauen sollte.
Ich kann da ziemlich gut folgen. Es ist interessant, dass ich ein ähnliches Schema im Kopf habe, dass ich erst niederschreiben wollte. Ebenfalls eine ziemlich intelligente Rasse, die sich dadurch auszeichnet, dass sie eine weitaus intelligentere Mathematik beherrschen.
Z.B. Sie haben zwar reelle Zahlen wie wir, oder besser gesagt, komplexe Zahlen. Aber sie kennen keine transzendenten Zahlen. Für sie gibt es auch geschlossene Lösungen, wo wir nur mit Reihen operieren können. Auf einer bestimmten Ebene sind für sie Kreis und Längenzahlen kommensurabel.
Das wären sie für uns ja auch, wenn wir jederzeit zwischen Laplace-Transformierter und normaler Funktion umschalten könnten.
Aber es bedeutet auch, dass sie sich ganz andere Sinnfragen stellen. Und das Bedürfnis nach Vollkommenheit haben sie wie Fred.
[ot]
Ich gebe ja zu, dass es vielleicht interessanter ist, sich mit sw zu treffen, aber ich wundere mich, dass wir uns nicht auf normale Art schon über den Weg gelaufen sind.
Gestern war ich zB bei einer Datawarehouse Business Intelligence Veranstaltung und habe die Hälfte der Leute gekannt.
Was ja schlimm ist, weil man sich in der EDV keinen Touch erlauben darf. Man wäscht sich schwer wieder rein:)

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