Massen: Alltagstrott
Die darauffolgenden Tage verstrichen unspektakulär. Ich stand um fünf Uhr früh auf, nahm die erste Straßenbahn in die Innenstadt – manchmal ergatterte ich auf diese Weise einen Sitzplatz – saß mit einem eklatanten Mangel an Begeisterung an meinem PC, mit zehn anderen in einem Wohnzimmergroßen Büro, erledigte meine Arbeit, und kam irgendwann um fünf oder sechs müde nach Hause.
Insofern hatte ich ja großes Glück. So sehr wir hier unter der Überbevölkerung und dem geringen Lebensstandard auch litten, war die K&K-Monarchie ja für ihre grandiosen Universitäten und die Intelligenz der Menschen bekannt – so war es kein Wunder, daß seit vielen Jahren viele Firmen ihre Aufträge hier erledigen liessen, wo die Löhne niedrig und der Arbeitnehmer-Schutz überschaubar war. Mir war völlig klar, daß ich einem amerikanischen, kanadischen, oder britischen Entwickler den Arbeitsplatz gekostet hatte. Andererseits wußte ich auch, daß speziell in Kanada oder dem Empire ein Wohlfahrtsstaat herrschte, von dem unsere Leute nur träumen konnten. Mein Mitleid hielt sich auch insofern in Grenzen, als ich 60 Stunden pro Woche zu arbeiten hatte, und mir davon gerade einmal ein erträgliches Leben leisten konnte. Es bestand zwar die meiste Zeit in einem Wechsel von Arbeit und Schlaf, aber es war zumindest erträglich, und ich schaffte es sogar, mir monatlich etwas zur Seite zu legen.
Am Freitag jedoch fand ich in aller Frühe ein Telegramm vor meiner Tür. Zum Glück hatte Max daran gedacht, mich auf diesem Wege zu verständigen. Mein Arbeitgeber war nicht gerade für seine Begeisterung für private Korrespondenz auf Firmenkosten bekannt, und eine E-Mail am Arbeitsplatz zu empfangen, die nicht deutlich mit meiner Arbeit im Zusammenhang stand, hatte regelmässig hochnothpeinlich inquisitorische Gespräche zur Folge, mit einer guten Chance, bei nicht entsprechenden Antworten meinen Arbeitsplatz zu verlieren. Ich gab deshalb meine E-Mail-Adresse nur sehr guten Freunden, und ausdrücklich nur für Notfälle. Also schickte Max mir ein E-Gram.
Ich war gerade dabei, zu erkunden, ob das gemeinschaftiche Klo draußen am Gang frei war, da lag die Sendung auf der Zeitung, gleich neben meiner Fußmatte. Es enthielt eine Nachricht von Max. „Hole dich Samstag Nachmittag vom Büro ab.“ Ich war aufgeregt, trotz meiner Müdigkeit. Meine Gedanken tröpfelten im Einklang mit dem Kaffee aus der Maschine. Die muffige Küche, zugleich Vorzimmer, hatte nur ein Gangfenster, daher hatte ich meistens das Licht brennen, und folgerichtig einen Vorrat an Glühbirnen im Kasten. Ich aß nie dort, jedoch blieb mir nichts übrig, als meine Speisen dort zu bereiten. Auch mein Frühstück entstand in diesem Vorraum.
Mein Bett hatte inzwischen die frühmorgendliche Metamorphose zur Sitzgelegenheit durchlaufen. Obwohl ich selten Besuch bekam, hielt ich diese Gewohnheit aufrecht, wahrscheinlich auch zum Teil, um mich in den Tag zu zwingen. Ich saß also da und las meine Zeitung, die dieser Tage voll von Katastrophenmeldungen war. Obwohl es zu regnen aufgehört hatte, waren die Schäden an Leib und Leben sehr hoch gewesen. Ich überblätterte dieses Thema aus begreiflichen Gründen, soweit es ging, und lies mich darüber unterrichten, daß Ihre Majestät, die Kaiserin, zum nunmehr zweiten Mal guter Hoffnung war. Die große Länder-Reform, die seit Jahren von Vertretern der nicht-deutschen Kronländer gefordert wurde, stand erneut im Zentrum heftigster Debatten. Insbesondere die geplante Teilung in Tschechien und die Slovakei wurde erbittert diskutiert. Einige Nationalisten forderten erneut – wie bei jeder Gelegenheit – die weitgehende Autonomie oder auch Loslösung vom deutschsprachigen Mutterland. Selbstverständlich fanden solche unsinnigen Forderungen kein allgemeines Gehör, denn wie die ohnehin schon so gebeutelten einzelnen Teile jemals auf sich gestellt überleben sollten, diese Antwort blieben die Forderer selbstverständlich schuldig.
Über diese Gedanken leerte sich mein Kaffeehäferl, und ich war der Neuigkeiten überdrüssig.
Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Viel interessanter als alles, was in der Zeitung stand, empfand ich die Frage, was Max denn nun am Samstag mit mir vorhatte. Doch noch war es nicht so weit. Ich verließ die Wohnung mit einer leichten Jacke, verschloß die Tür an drei Schlössern, was leider notwendig war in Zeiten wie diesen, grüßte die Nachbarin und drei ihrer Kinder, die zusammen mit ihrem Mann in einem Raum lebten, und lief die Stiege hinunter.
Der Anblick meiner Nachbarn erinnerte mich regelmäßig daran, wie gut ich es erwischt hatte. Ich war Hauptmieter dieser Wohnung, das war fast besser als Eigentümer. Ich hatte die immense Ablöse aus der Erbschaft eines alten Onkels leisten können. Vorher hatte ich, wie so viele junge Männer, in einem der zahlreichen Kaiserlich-Königlichen Männerheime gewohnt. Diese gehörten der Krone, und waren laut Anordnung seiner Majestät selbst nicht profitorientiert, sondern wirtschafteten auf Selbstkostenbasis. Sie waren eigentlich in Ordnung, so mancher Obdachloser wünschte sich sehnlich eine solche Unterbringung. Dennoch hatte man in einer Wohnung den Luxus der Privatsphäre. Und um das nicht ungesagt zu lassen: In ein Männerheim durfte man keine Frauen mitbringen.
Durch die lange Einfahrt im Erdgeschoß erreichte ich die alte Holztür zur Straße hin. Etliche Kinder spielten am anderen Ende im Hof, Erwachsene saßen auf mitgebrachten Holzstühlen dort und frühstückten und unterhielten sich. In der Einfahrt lehnten etliche Fahrräder festgebunden an der Wand. Draußen saßen zwei Bettler. Die Gasse, in der ich wohnte, war voll von alten, grauen Häusern. Bürgerhäuser hatten grau zu sein. Gelb war die kaiserliche Farbe, andere Farben waren den Adeligen gestattet. Die Einheitsfarbe für das restliche Wien war grau. Allerdings spielte das kaum mehr eine Rolle, denn sämtliche Häuser waren so alt, daß sie ihren Verputz verloren. Man konnte sich aussuchen, ob einem das Grau besser gefiel, oder die nackten Ziegelwände.
Die Straße teilte zwar die Farbe, war aber kaum zu sehen. Auf den Pflastersteinen spielte sich das Leben ab. Die Fahrbahn wurde von Autos, Mopeds, Kabinenrollern, aber auch Handkarren und Fahrrädern dominiert, die sich die wenigen Meter mit einem nicht enden wollenden Strom an Passanten teilten, die auf den schmalen Gehsteigen keinen Platz mehr hatten. Dort befanden sich etliche Zelte und Notunterkünfte, die sich an die grauen Mauern schmiegten, und viele Familien beherbergten. An ihnen vorbei bewegten sich langsam Passanten, aber schneller war man auf der Fahrbahn. Ich beeilte mich, die Ottakringer Straße und die Straßenbahnstation zu erreichen. Die Straßenbahnen, und etliche Busse, stauten sich vor der Station. Die Menschen standen dicht an dicht, bis zu fünf Meter in die Fahrbahn hinein. Ein 44er klingelte sich ungeduldig seinen Weg durch die Menschenmenge. Langsam wichen die Leute aus. Der Wagen konnte in die Station einfahren. Aber schon vorher und nachher waren viele Fahrgäste auf und von den Plattformen gesprungen. Die Schaffner machten ihren Berufsbezeichnungen alle Ehre, indem sie es wirklich schafften, den Überblick zu bewahren.
Ich war einer derer, die den 44er nahmen. Dichtgedrängt zwischen einer Frau im mittleren Alter, die ihren kleinen Sohn fortwährend zurechtwies, einem nach Schnaps duftenden dicken Arbeiter, und einem sich unsicher gebärdendem schlanken wohlgekleideten Mann, erwartete ich, daß einer der Schaffner dieses Zuges die Plattform versorgen würde. Er kam auch, aber erst nach sechs Minuten, als wir den Gürtel erreicht hatten, hielt sich mit einer Hand fest, mit der anderen holte er die Fahrkarte hervor und fragte „Wohin?“ „Schottentor“ antwortete ich. „Fünf Heller“ murmelte er. Wir tauschten Ware und Geld, und er verfuhr ähnlich mit den weiteren Fahrgästen. Seine Kollegin saß drinnen im regulären Fahrkartenschalter und bediente ebenfalls.
Nach einiger Zeit stand ich doch im Inneren des Wagens. Viele Fahrgäste verließen am Gürtel den Zug, und so hatte ich oft eine Sitzgelegenheit von dort bis zur Innenstadt. Nicht so heute. Ich war etwas spät dran. Zudem schien es, als ob viele Menschen das Wetter nutzten und Sachen erledigten, die sie während des Regens aufgeschoben hatten. Die Straßenbahn kam nur schrittweise vorwärts. Nachdem mir etwas heiß wurde, und ich ohnehin keinen Sitzplatz hatte, beschloß ich, ein paar hundert Meter zu Fuß zu gehen. Ich wuzelte mich auf die Plattform und sprang ab, dann folgte ich dem ewigen Strom der Passanten in Richtung Innenstadt. Schon war ich an der Landesgerichtsstraße angelangt. Hier bereute ich meinen verfrühten Ausstieg, denn er schien fast unmöglich, hinüberzukommen. Von allen Seiten ergossen sich Fahrzeuge aller Art in diese große Kreuzung, in deren Mitte ein einsamer Schutzmann versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Der Strom an Bussen, Fahrrädern, Handkarren, Motorrädern und Passanten war, wie üblich, nicht beherrschbar.
Ich hatte aber Glück, denn ein 43er war grade gleichauf mit mir und stand still. Ich stieg auf und er setzte sich im selben Moment ruckelnd in Bewegung, als der Fahrer die Erlaubnis des Verkehrspolizisten erhalten hatte. Erst jetzt sah ich, daß drei Hilfspolizisten dem einsamen Manne auf seinem Podest halfen, indem sie seine Anweisungen tatkräftig forcierten. In diesem Falle hielten sie die Fahrzeuge, die von der Zweierlinie kamen, davon ab, in die Kreuzung einzufahren. Notdürftig kommandierten, schaufelten, ja sogar prügelten sie der Straßenbahn und vielen parallelen Fahrzeugen den Weg frei. So gelangte ich über die Landesgerichtsstraße. Ich sprang drüben wieder ab und suchte mir einen Weg durch den verstopften Verkehr hinüber zur Universität.
In diesem Augenblick fragte ich mich, wie schon so oft, wie es wohl dazu gekommen war, daß mitten in Europa, ja mitten in der Monarchie, ein halbes Land (nämlich Ost-Österreich) einfach links fuhr. Überall in Europa, bis auf die Britischen Inseln, hatte sich früher oder später der Rechts-Verkehr durchgesetzt, nur in diesem einen Teil eines Teils einer Nation fuhr man nach wie vor links. Es hieß, man hätte den geeigneten Augenblick schlichtweg verpasst, und von heute auf morgen umzustellen wäre ein Wahnwitz an Aufwand und verkehrstechnisch nicht mehr zu machen.
So blieb einfach an allen Aussengrenzen dieses Links-Fahr-Gebietes geregelte Kreuzungen zu errichten, die einen geordneten Seitenwechsel ermöglichten, bzw. Brücken hierzu zu errichten – aber davon gab es nur wenige.
Das Schottentor war eine Quelle ewiger Verkehrsverstopfung. Hier kamen die Währingerstraße und die Alserstraße zusammen und der Ring, und zusätzlich etliche Straßenbahn- und Buslinien. Es hatte einmal Pläne gegeben, einen Teil der Station unter die Erde zu legen. Wie allerdings so etwas aussehen mochte, konnte sich niemand wirklich vorstellen. So blieb es, wie es immer gewesen war. Zehn Straßenbahnen stauten sich vor der Kreisrunden Station, und Busse taten das ihre, die Straßen zu blockieren. Ich schlängelte mich durch das Gewirr und erreichte schließlich das Gebäude, in dem sich mein Arbeitgeber niedergelassen hatte. Ich stieg über drei schlafende Obdachlose, grüßte beim hineingehen den steinalten Portier, der wie üblich zehn Sekunden brauchte, um zu erwachen und heiser seinen Gruß hinterherzurufen, lief die Stiege nach oben. Im zweiten Stock, in einer ehemaligen Bürger-Wohnung, die sich in diesen Ausmaßen heute kaum noch jemand leisten konnte, verbrachte ich meine Tage. Ich betrat das Vorzimmer, grüßte die Damen des Sekretariats, versuchte aber dennoch, so unauffällig zu klingen, daß mein Chef mich nicht sofort bemerkte, und betrat das ehemalige Wohnzimmer, in dem ich ganz hinten im Eck meinen Platz fand.
Kaum hatte ich mich gesetzt, meldete sich das Telephon – unagenehm genug, es handelte sich um ein Firmen-Telephon. Ich hatte mir überlegt, mir ein Mobil-Telephon zuzulegen, aber dazu hätte ich einen Fingerabdruck sowie eine Ubedenklichkeitsbescheinigung der Plenk-Behörde beibringen müssen .. und ich hatte diese Begegnung bisher vermieden. Offiziell als K&K Ordnungsdienst bekannt, geleitet von Freiherrn von Plenk, war diese Behörde dafür bekannt, die Menschen allein schon dadurch im Griff zu behalten, daß sie sich so ziemlich in jedes Lebensdetail einmischte, das nur irgendwie erreichbar war. Aus diesem Grund hatte ich auch keinen privaten E-Mail-Account. Es gab nur zwei Gründe für geistig gesunde Menschen, die Plenk-Behörde freiwillig aufzusuchen: Geldgier, oder einen Arbeitsplatz. Und selbst die erfolgreichen Geldgierigen wußten solche offiziellen Besuche durch entsprechende Zuwendungen zu umgehen.
So verfügte ich bloß über ein Firmen-Telephon.
Es war Max. „Hättest du heute abend Zeit?“ fragte er. „Wann und wozu?“ wollte ich wissen. „Eine Kollegin kommt um halb acht am Westbahnhof an. Ich werde mich vielleicht verspäten. Könntest du sie abholen?“ „Woran erkenne ich sie?“ Max verriet mir ihren Namen, und bat mich, einen Karton anzufertigen. „Was ist mit dem Experiment am Samstag?“ fragte ich nach. „Gib dem Samstag was des Samstags ist!“ erwiederte er kryptisch.
Der Tag verging schneller. In der Mittagspause erstand ich ein Stück Karton und beschriftete es. Um sechs saß ich schon im Ringwagen und hoffte, rechtzeitig am Westbahnhof anzukommen. So leicht war das nicht. Zunächst mußte sich die Straßenbahn den ständig überlasteten Ring entlang wuzeln, und dann mußte ich noch den Anschluß über die Mariahilferstraße bekommen. Aber ich schaffte es.
Um fünf Heller mußte ich mir am Westbahnhof eine Besucherkarte kaufen. Schließlich konnte man schlecht Hinz und Kunz, noch dazu in Tausenden, in den Bahnhof hinein lassen – insbesondere auch, weil mindestens Hinz ein Taschendieb war und Kunz jemand, der arglosen Reisenden vorgaukelte, vom Hotel beauftragt worden zu sein, um sie dann irgendwohin zu führen.
Stattdessen stand ausserhalb des Bahnhofs eine gewaltige, amorphe Masse aus brüllenden, fordernden, sich vordrängenden, Geschäfte machen wollenden, bettelnden, oder auskundschaftenden Gestalten, brandeten an die Gußeiserne Absperrung, die von einem Kontingent Schutzleute überwacht wurde, wobei die Veteranen gelernt hatten, den gelegentlichen Ausflügen amtlicher Gummiwürschte gekonnt auszuweichen, und gaben dem Reisenden einen Vorgeschmack auf die Stadt. Der Schalter für die Besucherkarten war zum Glück besetzt, die Schlange nicht all zu lange, und ich erwarb die wertvolle Utensilie.
Insofern hatte ich ja großes Glück. So sehr wir hier unter der Überbevölkerung und dem geringen Lebensstandard auch litten, war die K&K-Monarchie ja für ihre grandiosen Universitäten und die Intelligenz der Menschen bekannt – so war es kein Wunder, daß seit vielen Jahren viele Firmen ihre Aufträge hier erledigen liessen, wo die Löhne niedrig und der Arbeitnehmer-Schutz überschaubar war. Mir war völlig klar, daß ich einem amerikanischen, kanadischen, oder britischen Entwickler den Arbeitsplatz gekostet hatte. Andererseits wußte ich auch, daß speziell in Kanada oder dem Empire ein Wohlfahrtsstaat herrschte, von dem unsere Leute nur träumen konnten. Mein Mitleid hielt sich auch insofern in Grenzen, als ich 60 Stunden pro Woche zu arbeiten hatte, und mir davon gerade einmal ein erträgliches Leben leisten konnte. Es bestand zwar die meiste Zeit in einem Wechsel von Arbeit und Schlaf, aber es war zumindest erträglich, und ich schaffte es sogar, mir monatlich etwas zur Seite zu legen.
Am Freitag jedoch fand ich in aller Frühe ein Telegramm vor meiner Tür. Zum Glück hatte Max daran gedacht, mich auf diesem Wege zu verständigen. Mein Arbeitgeber war nicht gerade für seine Begeisterung für private Korrespondenz auf Firmenkosten bekannt, und eine E-Mail am Arbeitsplatz zu empfangen, die nicht deutlich mit meiner Arbeit im Zusammenhang stand, hatte regelmässig hochnothpeinlich inquisitorische Gespräche zur Folge, mit einer guten Chance, bei nicht entsprechenden Antworten meinen Arbeitsplatz zu verlieren. Ich gab deshalb meine E-Mail-Adresse nur sehr guten Freunden, und ausdrücklich nur für Notfälle. Also schickte Max mir ein E-Gram.
Ich war gerade dabei, zu erkunden, ob das gemeinschaftiche Klo draußen am Gang frei war, da lag die Sendung auf der Zeitung, gleich neben meiner Fußmatte. Es enthielt eine Nachricht von Max. „Hole dich Samstag Nachmittag vom Büro ab.“ Ich war aufgeregt, trotz meiner Müdigkeit. Meine Gedanken tröpfelten im Einklang mit dem Kaffee aus der Maschine. Die muffige Küche, zugleich Vorzimmer, hatte nur ein Gangfenster, daher hatte ich meistens das Licht brennen, und folgerichtig einen Vorrat an Glühbirnen im Kasten. Ich aß nie dort, jedoch blieb mir nichts übrig, als meine Speisen dort zu bereiten. Auch mein Frühstück entstand in diesem Vorraum.
Mein Bett hatte inzwischen die frühmorgendliche Metamorphose zur Sitzgelegenheit durchlaufen. Obwohl ich selten Besuch bekam, hielt ich diese Gewohnheit aufrecht, wahrscheinlich auch zum Teil, um mich in den Tag zu zwingen. Ich saß also da und las meine Zeitung, die dieser Tage voll von Katastrophenmeldungen war. Obwohl es zu regnen aufgehört hatte, waren die Schäden an Leib und Leben sehr hoch gewesen. Ich überblätterte dieses Thema aus begreiflichen Gründen, soweit es ging, und lies mich darüber unterrichten, daß Ihre Majestät, die Kaiserin, zum nunmehr zweiten Mal guter Hoffnung war. Die große Länder-Reform, die seit Jahren von Vertretern der nicht-deutschen Kronländer gefordert wurde, stand erneut im Zentrum heftigster Debatten. Insbesondere die geplante Teilung in Tschechien und die Slovakei wurde erbittert diskutiert. Einige Nationalisten forderten erneut – wie bei jeder Gelegenheit – die weitgehende Autonomie oder auch Loslösung vom deutschsprachigen Mutterland. Selbstverständlich fanden solche unsinnigen Forderungen kein allgemeines Gehör, denn wie die ohnehin schon so gebeutelten einzelnen Teile jemals auf sich gestellt überleben sollten, diese Antwort blieben die Forderer selbstverständlich schuldig.
Über diese Gedanken leerte sich mein Kaffeehäferl, und ich war der Neuigkeiten überdrüssig.
Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Viel interessanter als alles, was in der Zeitung stand, empfand ich die Frage, was Max denn nun am Samstag mit mir vorhatte. Doch noch war es nicht so weit. Ich verließ die Wohnung mit einer leichten Jacke, verschloß die Tür an drei Schlössern, was leider notwendig war in Zeiten wie diesen, grüßte die Nachbarin und drei ihrer Kinder, die zusammen mit ihrem Mann in einem Raum lebten, und lief die Stiege hinunter.
Der Anblick meiner Nachbarn erinnerte mich regelmäßig daran, wie gut ich es erwischt hatte. Ich war Hauptmieter dieser Wohnung, das war fast besser als Eigentümer. Ich hatte die immense Ablöse aus der Erbschaft eines alten Onkels leisten können. Vorher hatte ich, wie so viele junge Männer, in einem der zahlreichen Kaiserlich-Königlichen Männerheime gewohnt. Diese gehörten der Krone, und waren laut Anordnung seiner Majestät selbst nicht profitorientiert, sondern wirtschafteten auf Selbstkostenbasis. Sie waren eigentlich in Ordnung, so mancher Obdachloser wünschte sich sehnlich eine solche Unterbringung. Dennoch hatte man in einer Wohnung den Luxus der Privatsphäre. Und um das nicht ungesagt zu lassen: In ein Männerheim durfte man keine Frauen mitbringen.
Durch die lange Einfahrt im Erdgeschoß erreichte ich die alte Holztür zur Straße hin. Etliche Kinder spielten am anderen Ende im Hof, Erwachsene saßen auf mitgebrachten Holzstühlen dort und frühstückten und unterhielten sich. In der Einfahrt lehnten etliche Fahrräder festgebunden an der Wand. Draußen saßen zwei Bettler. Die Gasse, in der ich wohnte, war voll von alten, grauen Häusern. Bürgerhäuser hatten grau zu sein. Gelb war die kaiserliche Farbe, andere Farben waren den Adeligen gestattet. Die Einheitsfarbe für das restliche Wien war grau. Allerdings spielte das kaum mehr eine Rolle, denn sämtliche Häuser waren so alt, daß sie ihren Verputz verloren. Man konnte sich aussuchen, ob einem das Grau besser gefiel, oder die nackten Ziegelwände.
Die Straße teilte zwar die Farbe, war aber kaum zu sehen. Auf den Pflastersteinen spielte sich das Leben ab. Die Fahrbahn wurde von Autos, Mopeds, Kabinenrollern, aber auch Handkarren und Fahrrädern dominiert, die sich die wenigen Meter mit einem nicht enden wollenden Strom an Passanten teilten, die auf den schmalen Gehsteigen keinen Platz mehr hatten. Dort befanden sich etliche Zelte und Notunterkünfte, die sich an die grauen Mauern schmiegten, und viele Familien beherbergten. An ihnen vorbei bewegten sich langsam Passanten, aber schneller war man auf der Fahrbahn. Ich beeilte mich, die Ottakringer Straße und die Straßenbahnstation zu erreichen. Die Straßenbahnen, und etliche Busse, stauten sich vor der Station. Die Menschen standen dicht an dicht, bis zu fünf Meter in die Fahrbahn hinein. Ein 44er klingelte sich ungeduldig seinen Weg durch die Menschenmenge. Langsam wichen die Leute aus. Der Wagen konnte in die Station einfahren. Aber schon vorher und nachher waren viele Fahrgäste auf und von den Plattformen gesprungen. Die Schaffner machten ihren Berufsbezeichnungen alle Ehre, indem sie es wirklich schafften, den Überblick zu bewahren.
Ich war einer derer, die den 44er nahmen. Dichtgedrängt zwischen einer Frau im mittleren Alter, die ihren kleinen Sohn fortwährend zurechtwies, einem nach Schnaps duftenden dicken Arbeiter, und einem sich unsicher gebärdendem schlanken wohlgekleideten Mann, erwartete ich, daß einer der Schaffner dieses Zuges die Plattform versorgen würde. Er kam auch, aber erst nach sechs Minuten, als wir den Gürtel erreicht hatten, hielt sich mit einer Hand fest, mit der anderen holte er die Fahrkarte hervor und fragte „Wohin?“ „Schottentor“ antwortete ich. „Fünf Heller“ murmelte er. Wir tauschten Ware und Geld, und er verfuhr ähnlich mit den weiteren Fahrgästen. Seine Kollegin saß drinnen im regulären Fahrkartenschalter und bediente ebenfalls.
Nach einiger Zeit stand ich doch im Inneren des Wagens. Viele Fahrgäste verließen am Gürtel den Zug, und so hatte ich oft eine Sitzgelegenheit von dort bis zur Innenstadt. Nicht so heute. Ich war etwas spät dran. Zudem schien es, als ob viele Menschen das Wetter nutzten und Sachen erledigten, die sie während des Regens aufgeschoben hatten. Die Straßenbahn kam nur schrittweise vorwärts. Nachdem mir etwas heiß wurde, und ich ohnehin keinen Sitzplatz hatte, beschloß ich, ein paar hundert Meter zu Fuß zu gehen. Ich wuzelte mich auf die Plattform und sprang ab, dann folgte ich dem ewigen Strom der Passanten in Richtung Innenstadt. Schon war ich an der Landesgerichtsstraße angelangt. Hier bereute ich meinen verfrühten Ausstieg, denn er schien fast unmöglich, hinüberzukommen. Von allen Seiten ergossen sich Fahrzeuge aller Art in diese große Kreuzung, in deren Mitte ein einsamer Schutzmann versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Der Strom an Bussen, Fahrrädern, Handkarren, Motorrädern und Passanten war, wie üblich, nicht beherrschbar.
Ich hatte aber Glück, denn ein 43er war grade gleichauf mit mir und stand still. Ich stieg auf und er setzte sich im selben Moment ruckelnd in Bewegung, als der Fahrer die Erlaubnis des Verkehrspolizisten erhalten hatte. Erst jetzt sah ich, daß drei Hilfspolizisten dem einsamen Manne auf seinem Podest halfen, indem sie seine Anweisungen tatkräftig forcierten. In diesem Falle hielten sie die Fahrzeuge, die von der Zweierlinie kamen, davon ab, in die Kreuzung einzufahren. Notdürftig kommandierten, schaufelten, ja sogar prügelten sie der Straßenbahn und vielen parallelen Fahrzeugen den Weg frei. So gelangte ich über die Landesgerichtsstraße. Ich sprang drüben wieder ab und suchte mir einen Weg durch den verstopften Verkehr hinüber zur Universität.
In diesem Augenblick fragte ich mich, wie schon so oft, wie es wohl dazu gekommen war, daß mitten in Europa, ja mitten in der Monarchie, ein halbes Land (nämlich Ost-Österreich) einfach links fuhr. Überall in Europa, bis auf die Britischen Inseln, hatte sich früher oder später der Rechts-Verkehr durchgesetzt, nur in diesem einen Teil eines Teils einer Nation fuhr man nach wie vor links. Es hieß, man hätte den geeigneten Augenblick schlichtweg verpasst, und von heute auf morgen umzustellen wäre ein Wahnwitz an Aufwand und verkehrstechnisch nicht mehr zu machen.
So blieb einfach an allen Aussengrenzen dieses Links-Fahr-Gebietes geregelte Kreuzungen zu errichten, die einen geordneten Seitenwechsel ermöglichten, bzw. Brücken hierzu zu errichten – aber davon gab es nur wenige.
Das Schottentor war eine Quelle ewiger Verkehrsverstopfung. Hier kamen die Währingerstraße und die Alserstraße zusammen und der Ring, und zusätzlich etliche Straßenbahn- und Buslinien. Es hatte einmal Pläne gegeben, einen Teil der Station unter die Erde zu legen. Wie allerdings so etwas aussehen mochte, konnte sich niemand wirklich vorstellen. So blieb es, wie es immer gewesen war. Zehn Straßenbahnen stauten sich vor der Kreisrunden Station, und Busse taten das ihre, die Straßen zu blockieren. Ich schlängelte mich durch das Gewirr und erreichte schließlich das Gebäude, in dem sich mein Arbeitgeber niedergelassen hatte. Ich stieg über drei schlafende Obdachlose, grüßte beim hineingehen den steinalten Portier, der wie üblich zehn Sekunden brauchte, um zu erwachen und heiser seinen Gruß hinterherzurufen, lief die Stiege nach oben. Im zweiten Stock, in einer ehemaligen Bürger-Wohnung, die sich in diesen Ausmaßen heute kaum noch jemand leisten konnte, verbrachte ich meine Tage. Ich betrat das Vorzimmer, grüßte die Damen des Sekretariats, versuchte aber dennoch, so unauffällig zu klingen, daß mein Chef mich nicht sofort bemerkte, und betrat das ehemalige Wohnzimmer, in dem ich ganz hinten im Eck meinen Platz fand.
Kaum hatte ich mich gesetzt, meldete sich das Telephon – unagenehm genug, es handelte sich um ein Firmen-Telephon. Ich hatte mir überlegt, mir ein Mobil-Telephon zuzulegen, aber dazu hätte ich einen Fingerabdruck sowie eine Ubedenklichkeitsbescheinigung der Plenk-Behörde beibringen müssen .. und ich hatte diese Begegnung bisher vermieden. Offiziell als K&K Ordnungsdienst bekannt, geleitet von Freiherrn von Plenk, war diese Behörde dafür bekannt, die Menschen allein schon dadurch im Griff zu behalten, daß sie sich so ziemlich in jedes Lebensdetail einmischte, das nur irgendwie erreichbar war. Aus diesem Grund hatte ich auch keinen privaten E-Mail-Account. Es gab nur zwei Gründe für geistig gesunde Menschen, die Plenk-Behörde freiwillig aufzusuchen: Geldgier, oder einen Arbeitsplatz. Und selbst die erfolgreichen Geldgierigen wußten solche offiziellen Besuche durch entsprechende Zuwendungen zu umgehen.
So verfügte ich bloß über ein Firmen-Telephon.
Es war Max. „Hättest du heute abend Zeit?“ fragte er. „Wann und wozu?“ wollte ich wissen. „Eine Kollegin kommt um halb acht am Westbahnhof an. Ich werde mich vielleicht verspäten. Könntest du sie abholen?“ „Woran erkenne ich sie?“ Max verriet mir ihren Namen, und bat mich, einen Karton anzufertigen. „Was ist mit dem Experiment am Samstag?“ fragte ich nach. „Gib dem Samstag was des Samstags ist!“ erwiederte er kryptisch.
Der Tag verging schneller. In der Mittagspause erstand ich ein Stück Karton und beschriftete es. Um sechs saß ich schon im Ringwagen und hoffte, rechtzeitig am Westbahnhof anzukommen. So leicht war das nicht. Zunächst mußte sich die Straßenbahn den ständig überlasteten Ring entlang wuzeln, und dann mußte ich noch den Anschluß über die Mariahilferstraße bekommen. Aber ich schaffte es.
Um fünf Heller mußte ich mir am Westbahnhof eine Besucherkarte kaufen. Schließlich konnte man schlecht Hinz und Kunz, noch dazu in Tausenden, in den Bahnhof hinein lassen – insbesondere auch, weil mindestens Hinz ein Taschendieb war und Kunz jemand, der arglosen Reisenden vorgaukelte, vom Hotel beauftragt worden zu sein, um sie dann irgendwohin zu führen.
Stattdessen stand ausserhalb des Bahnhofs eine gewaltige, amorphe Masse aus brüllenden, fordernden, sich vordrängenden, Geschäfte machen wollenden, bettelnden, oder auskundschaftenden Gestalten, brandeten an die Gußeiserne Absperrung, die von einem Kontingent Schutzleute überwacht wurde, wobei die Veteranen gelernt hatten, den gelegentlichen Ausflügen amtlicher Gummiwürschte gekonnt auszuweichen, und gaben dem Reisenden einen Vorgeschmack auf die Stadt. Der Schalter für die Besucherkarten war zum Glück besetzt, die Schlange nicht all zu lange, und ich erwarb die wertvolle Utensilie.
ReserveBuddha - 5. Mai, 17:41