16
Jun
2010

Konsequenz

Ein Mensch, der tränenreich verklebt
für sich Absolution erstrebt,
weil er ein Depp gewesen wär,
ein selbstgerechter Eierbär -

Der Mensch kommt letztlich doch zum Schluss
dass seiner Selbstzerfleischung Stuss
nur dazu dient, den eignen Leichen
in seinem Keller auszuweichen!

Der Mensch geht draufhin durchs Gewitter
und sagt sich, trocken und auch bitter:

NUR Konsequenzen auch zu tragen
verdauts, und lässt es nicht im Magen!

5
Mai
2010

Massen: Alltagstrott

Die darauffolgenden Tage verstrichen unspektakulär. Ich stand um fünf Uhr früh auf, nahm die erste Straßenbahn in die Innenstadt – manchmal ergatterte ich auf diese Weise einen Sitzplatz – saß mit einem eklatanten Mangel an Begeisterung an meinem PC, mit zehn anderen in einem Wohnzimmergroßen Büro, erledigte meine Arbeit, und kam irgendwann um fünf oder sechs müde nach Hause.

Insofern hatte ich ja großes Glück. So sehr wir hier unter der Überbevölkerung und dem geringen Lebensstandard auch litten, war die K&K-Monarchie ja für ihre grandiosen Universitäten und die Intelligenz der Menschen bekannt – so war es kein Wunder, daß seit vielen Jahren viele Firmen ihre Aufträge hier erledigen liessen, wo die Löhne niedrig und der Arbeitnehmer-Schutz überschaubar war. Mir war völlig klar, daß ich einem amerikanischen, kanadischen, oder britischen Entwickler den Arbeitsplatz gekostet hatte. Andererseits wußte ich auch, daß speziell in Kanada oder dem Empire ein Wohlfahrtsstaat herrschte, von dem unsere Leute nur träumen konnten. Mein Mitleid hielt sich auch insofern in Grenzen, als ich 60 Stunden pro Woche zu arbeiten hatte, und mir davon gerade einmal ein erträgliches Leben leisten konnte. Es bestand zwar die meiste Zeit in einem Wechsel von Arbeit und Schlaf, aber es war zumindest erträglich, und ich schaffte es sogar, mir monatlich etwas zur Seite zu legen.

Am Freitag jedoch fand ich in aller Frühe ein Telegramm vor meiner Tür. Zum Glück hatte Max daran gedacht, mich auf diesem Wege zu verständigen. Mein Arbeitgeber war nicht gerade für seine Begeisterung für private Korrespondenz auf Firmenkosten bekannt, und eine E-Mail am Arbeitsplatz zu empfangen, die nicht deutlich mit meiner Arbeit im Zusammenhang stand, hatte regelmässig hochnothpeinlich inquisitorische Gespräche zur Folge, mit einer guten Chance, bei nicht entsprechenden Antworten meinen Arbeitsplatz zu verlieren. Ich gab deshalb meine E-Mail-Adresse nur sehr guten Freunden, und ausdrücklich nur für Notfälle. Also schickte Max mir ein E-Gram.

Ich war gerade dabei, zu erkunden, ob das gemeinschaftiche Klo draußen am Gang frei war, da lag die Sendung auf der Zeitung, gleich neben meiner Fußmatte. Es enthielt eine Nachricht von Max. „Hole dich Samstag Nachmittag vom Büro ab.“ Ich war aufgeregt, trotz meiner Müdigkeit. Meine Gedanken tröpfelten im Einklang mit dem Kaffee aus der Maschine. Die muffige Küche, zugleich Vorzimmer, hatte nur ein Gangfenster, daher hatte ich meistens das Licht brennen, und folgerichtig einen Vorrat an Glühbirnen im Kasten. Ich aß nie dort, jedoch blieb mir nichts übrig, als meine Speisen dort zu bereiten. Auch mein Frühstück entstand in diesem Vorraum.

Mein Bett hatte inzwischen die frühmorgendliche Metamorphose zur Sitzgelegenheit durchlaufen. Obwohl ich selten Besuch bekam, hielt ich diese Gewohnheit aufrecht, wahrscheinlich auch zum Teil, um mich in den Tag zu zwingen. Ich saß also da und las meine Zeitung, die dieser Tage voll von Katastrophenmeldungen war. Obwohl es zu regnen aufgehört hatte, waren die Schäden an Leib und Leben sehr hoch gewesen. Ich überblätterte dieses Thema aus begreiflichen Gründen, soweit es ging, und lies mich darüber unterrichten, daß Ihre Majestät, die Kaiserin, zum nunmehr zweiten Mal guter Hoffnung war. Die große Länder-Reform, die seit Jahren von Vertretern der nicht-deutschen Kronländer gefordert wurde, stand erneut im Zentrum heftigster Debatten. Insbesondere die geplante Teilung in Tschechien und die Slovakei wurde erbittert diskutiert. Einige Nationalisten forderten erneut – wie bei jeder Gelegenheit – die weitgehende Autonomie oder auch Loslösung vom deutschsprachigen Mutterland. Selbstverständlich fanden solche unsinnigen Forderungen kein allgemeines Gehör, denn wie die ohnehin schon so gebeutelten einzelnen Teile jemals auf sich gestellt überleben sollten, diese Antwort blieben die Forderer selbstverständlich schuldig.

Über diese Gedanken leerte sich mein Kaffeehäferl, und ich war der Neuigkeiten überdrüssig.

Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Viel interessanter als alles, was in der Zeitung stand, empfand ich die Frage, was Max denn nun am Samstag mit mir vorhatte. Doch noch war es nicht so weit. Ich verließ die Wohnung mit einer leichten Jacke, verschloß die Tür an drei Schlössern, was leider notwendig war in Zeiten wie diesen, grüßte die Nachbarin und drei ihrer Kinder, die zusammen mit ihrem Mann in einem Raum lebten, und lief die Stiege hinunter.

Der Anblick meiner Nachbarn erinnerte mich regelmäßig daran, wie gut ich es erwischt hatte. Ich war Hauptmieter dieser Wohnung, das war fast besser als Eigentümer. Ich hatte die immense Ablöse aus der Erbschaft eines alten Onkels leisten können. Vorher hatte ich, wie so viele junge Männer, in einem der zahlreichen Kaiserlich-Königlichen Männerheime gewohnt. Diese gehörten der Krone, und waren laut Anordnung seiner Majestät selbst nicht profitorientiert, sondern wirtschafteten auf Selbstkostenbasis. Sie waren eigentlich in Ordnung, so mancher Obdachloser wünschte sich sehnlich eine solche Unterbringung. Dennoch hatte man in einer Wohnung den Luxus der Privatsphäre. Und um das nicht ungesagt zu lassen: In ein Männerheim durfte man keine Frauen mitbringen.

Durch die lange Einfahrt im Erdgeschoß erreichte ich die alte Holztür zur Straße hin. Etliche Kinder spielten am anderen Ende im Hof, Erwachsene saßen auf mitgebrachten Holzstühlen dort und frühstückten und unterhielten sich. In der Einfahrt lehnten etliche Fahrräder festgebunden an der Wand. Draußen saßen zwei Bettler. Die Gasse, in der ich wohnte, war voll von alten, grauen Häusern. Bürgerhäuser hatten grau zu sein. Gelb war die kaiserliche Farbe, andere Farben waren den Adeligen gestattet. Die Einheitsfarbe für das restliche Wien war grau. Allerdings spielte das kaum mehr eine Rolle, denn sämtliche Häuser waren so alt, daß sie ihren Verputz verloren. Man konnte sich aussuchen, ob einem das Grau besser gefiel, oder die nackten Ziegelwände.

Die Straße teilte zwar die Farbe, war aber kaum zu sehen. Auf den Pflastersteinen spielte sich das Leben ab. Die Fahrbahn wurde von Autos, Mopeds, Kabinenrollern, aber auch Handkarren und Fahrrädern dominiert, die sich die wenigen Meter mit einem nicht enden wollenden Strom an Passanten teilten, die auf den schmalen Gehsteigen keinen Platz mehr hatten. Dort befanden sich etliche Zelte und Notunterkünfte, die sich an die grauen Mauern schmiegten, und viele Familien beherbergten. An ihnen vorbei bewegten sich langsam Passanten, aber schneller war man auf der Fahrbahn. Ich beeilte mich, die Ottakringer Straße und die Straßenbahnstation zu erreichen. Die Straßenbahnen, und etliche Busse, stauten sich vor der Station. Die Menschen standen dicht an dicht, bis zu fünf Meter in die Fahrbahn hinein. Ein 44er klingelte sich ungeduldig seinen Weg durch die Menschenmenge. Langsam wichen die Leute aus. Der Wagen konnte in die Station einfahren. Aber schon vorher und nachher waren viele Fahrgäste auf und von den Plattformen gesprungen. Die Schaffner machten ihren Berufsbezeichnungen alle Ehre, indem sie es wirklich schafften, den Überblick zu bewahren.

Ich war einer derer, die den 44er nahmen. Dichtgedrängt zwischen einer Frau im mittleren Alter, die ihren kleinen Sohn fortwährend zurechtwies, einem nach Schnaps duftenden dicken Arbeiter, und einem sich unsicher gebärdendem schlanken wohlgekleideten Mann, erwartete ich, daß einer der Schaffner dieses Zuges die Plattform versorgen würde. Er kam auch, aber erst nach sechs Minuten, als wir den Gürtel erreicht hatten, hielt sich mit einer Hand fest, mit der anderen holte er die Fahrkarte hervor und fragte „Wohin?“ „Schottentor“ antwortete ich. „Fünf Heller“ murmelte er. Wir tauschten Ware und Geld, und er verfuhr ähnlich mit den weiteren Fahrgästen. Seine Kollegin saß drinnen im regulären Fahrkartenschalter und bediente ebenfalls.

Nach einiger Zeit stand ich doch im Inneren des Wagens. Viele Fahrgäste verließen am Gürtel den Zug, und so hatte ich oft eine Sitzgelegenheit von dort bis zur Innenstadt. Nicht so heute. Ich war etwas spät dran. Zudem schien es, als ob viele Menschen das Wetter nutzten und Sachen erledigten, die sie während des Regens aufgeschoben hatten. Die Straßenbahn kam nur schrittweise vorwärts. Nachdem mir etwas heiß wurde, und ich ohnehin keinen Sitzplatz hatte, beschloß ich, ein paar hundert Meter zu Fuß zu gehen. Ich wuzelte mich auf die Plattform und sprang ab, dann folgte ich dem ewigen Strom der Passanten in Richtung Innenstadt. Schon war ich an der Landesgerichtsstraße angelangt. Hier bereute ich meinen verfrühten Ausstieg, denn er schien fast unmöglich, hinüberzukommen. Von allen Seiten ergossen sich Fahrzeuge aller Art in diese große Kreuzung, in deren Mitte ein einsamer Schutzmann versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen. Der Strom an Bussen, Fahrrädern, Handkarren, Motorrädern und Passanten war, wie üblich, nicht beherrschbar.

Ich hatte aber Glück, denn ein 43er war grade gleichauf mit mir und stand still. Ich stieg auf und er setzte sich im selben Moment ruckelnd in Bewegung, als der Fahrer die Erlaubnis des Verkehrspolizisten erhalten hatte. Erst jetzt sah ich, daß drei Hilfspolizisten dem einsamen Manne auf seinem Podest halfen, indem sie seine Anweisungen tatkräftig forcierten. In diesem Falle hielten sie die Fahrzeuge, die von der Zweierlinie kamen, davon ab, in die Kreuzung einzufahren. Notdürftig kommandierten, schaufelten, ja sogar prügelten sie der Straßenbahn und vielen parallelen Fahrzeugen den Weg frei. So gelangte ich über die Landesgerichtsstraße. Ich sprang drüben wieder ab und suchte mir einen Weg durch den verstopften Verkehr hinüber zur Universität.

In diesem Augenblick fragte ich mich, wie schon so oft, wie es wohl dazu gekommen war, daß mitten in Europa, ja mitten in der Monarchie, ein halbes Land (nämlich Ost-Österreich) einfach links fuhr. Überall in Europa, bis auf die Britischen Inseln, hatte sich früher oder später der Rechts-Verkehr durchgesetzt, nur in diesem einen Teil eines Teils einer Nation fuhr man nach wie vor links. Es hieß, man hätte den geeigneten Augenblick schlichtweg verpasst, und von heute auf morgen umzustellen wäre ein Wahnwitz an Aufwand und verkehrstechnisch nicht mehr zu machen.

So blieb einfach an allen Aussengrenzen dieses Links-Fahr-Gebietes geregelte Kreuzungen zu errichten, die einen geordneten Seitenwechsel ermöglichten, bzw. Brücken hierzu zu errichten – aber davon gab es nur wenige.

Das Schottentor war eine Quelle ewiger Verkehrsverstopfung. Hier kamen die Währingerstraße und die Alserstraße zusammen und der Ring, und zusätzlich etliche Straßenbahn- und Buslinien. Es hatte einmal Pläne gegeben, einen Teil der Station unter die Erde zu legen. Wie allerdings so etwas aussehen mochte, konnte sich niemand wirklich vorstellen. So blieb es, wie es immer gewesen war. Zehn Straßenbahnen stauten sich vor der Kreisrunden Station, und Busse taten das ihre, die Straßen zu blockieren. Ich schlängelte mich durch das Gewirr und erreichte schließlich das Gebäude, in dem sich mein Arbeitgeber niedergelassen hatte. Ich stieg über drei schlafende Obdachlose, grüßte beim hineingehen den steinalten Portier, der wie üblich zehn Sekunden brauchte, um zu erwachen und heiser seinen Gruß hinterherzurufen, lief die Stiege nach oben. Im zweiten Stock, in einer ehemaligen Bürger-Wohnung, die sich in diesen Ausmaßen heute kaum noch jemand leisten konnte, verbrachte ich meine Tage. Ich betrat das Vorzimmer, grüßte die Damen des Sekretariats, versuchte aber dennoch, so unauffällig zu klingen, daß mein Chef mich nicht sofort bemerkte, und betrat das ehemalige Wohnzimmer, in dem ich ganz hinten im Eck meinen Platz fand.

Kaum hatte ich mich gesetzt, meldete sich das Telephon – unagenehm genug, es handelte sich um ein Firmen-Telephon. Ich hatte mir überlegt, mir ein Mobil-Telephon zuzulegen, aber dazu hätte ich einen Fingerabdruck sowie eine Ubedenklichkeitsbescheinigung der Plenk-Behörde beibringen müssen .. und ich hatte diese Begegnung bisher vermieden. Offiziell als K&K Ordnungsdienst bekannt, geleitet von Freiherrn von Plenk, war diese Behörde dafür bekannt, die Menschen allein schon dadurch im Griff zu behalten, daß sie sich so ziemlich in jedes Lebensdetail einmischte, das nur irgendwie erreichbar war. Aus diesem Grund hatte ich auch keinen privaten E-Mail-Account. Es gab nur zwei Gründe für geistig gesunde Menschen, die Plenk-Behörde freiwillig aufzusuchen: Geldgier, oder einen Arbeitsplatz. Und selbst die erfolgreichen Geldgierigen wußten solche offiziellen Besuche durch entsprechende Zuwendungen zu umgehen.

So verfügte ich bloß über ein Firmen-Telephon.

Es war Max. „Hättest du heute abend Zeit?“ fragte er. „Wann und wozu?“ wollte ich wissen. „Eine Kollegin kommt um halb acht am Westbahnhof an. Ich werde mich vielleicht verspäten. Könntest du sie abholen?“ „Woran erkenne ich sie?“ Max verriet mir ihren Namen, und bat mich, einen Karton anzufertigen. „Was ist mit dem Experiment am Samstag?“ fragte ich nach. „Gib dem Samstag was des Samstags ist!“ erwiederte er kryptisch.

Der Tag verging schneller. In der Mittagspause erstand ich ein Stück Karton und beschriftete es. Um sechs saß ich schon im Ringwagen und hoffte, rechtzeitig am Westbahnhof anzukommen. So leicht war das nicht. Zunächst mußte sich die Straßenbahn den ständig überlasteten Ring entlang wuzeln, und dann mußte ich noch den Anschluß über die Mariahilferstraße bekommen. Aber ich schaffte es.

Um fünf Heller mußte ich mir am Westbahnhof eine Besucherkarte kaufen. Schließlich konnte man schlecht Hinz und Kunz, noch dazu in Tausenden, in den Bahnhof hinein lassen – insbesondere auch, weil mindestens Hinz ein Taschendieb war und Kunz jemand, der arglosen Reisenden vorgaukelte, vom Hotel beauftragt worden zu sein, um sie dann irgendwohin zu führen.

Stattdessen stand ausserhalb des Bahnhofs eine gewaltige, amorphe Masse aus brüllenden, fordernden, sich vordrängenden, Geschäfte machen wollenden, bettelnden, oder auskundschaftenden Gestalten, brandeten an die Gußeiserne Absperrung, die von einem Kontingent Schutzleute überwacht wurde, wobei die Veteranen gelernt hatten, den gelegentlichen Ausflügen amtlicher Gummiwürschte gekonnt auszuweichen, und gaben dem Reisenden einen Vorgeschmack auf die Stadt. Der Schalter für die Besucherkarten war zum Glück besetzt, die Schlange nicht all zu lange, und ich erwarb die wertvolle Utensilie.

3
Mai
2010

Massen

Ich bin ja fasziniert von dem Gedanken, eine zutiefst wienerische Geschichte zu verfassen, die aber zugleich eine SF-Geschichte ist. Diese hier ist bereits ziemlich alt (10 Jahre nämlich, ich hab sie begonnen, als die Donau 2000, wenn ich mich nicht irre, wieder einmal über ihre Verhältnisse geflossen ist). Und wieso sollte ich sie nicht auch gleich weiter spinnen?

Ich schritt über den Behelfssteg, der seit Jahrzehnten die Reichsbrücke ersetzte. Eine Konstruktion, die immer wieder ausgebessert, immer wieder verstärkt worden war. Knapp an mir ächzten rostige Autos im strömenden Regen vorbei, erkämpften sich einen Weg durch die Masse an Menschen, die die Behelfsbrücke immer wieder an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachten. Ich sah nach links, wo der Leopoldsberg am Rande von Wien trohnt wie ein Wächter. In der Ferne funkelte die Floridsdorfer Brücke, die einzige intakte Brücke zwischen dem Südosten und dem Nordwesten. Seit Jahrzehnten wurde im Rathaus und in der Öffentlichkeit die Errichtung wenigstens einer weiterer Brücke diskutiert. Zweimal hatte es Aufträge gegeben, und einmal war eine Brücke zwischen der Reichsbrücke und der Floridsdorfer Brücke errichtet worden. Sie hatte noch nicht einmal einen Namen gehabt, als sie während des Baus in sich zusammenstürzte. Danach wurde sie nurmehr die „Brücke ohne Wiederkehr“ genannt. Millionen an Bestechungsgeldern waren von der Wirtschaft an die Politik geflossen, noch mehr Steuergelder aus der maroden Stadtkasse an dubiose Bauherren, von denen einer jetzt vergnügt irgendwo in Argentinien ein ruhiges Leben führen mochte. Weder er noch die Millionen, die er der Allgemeinheit hier noch schuldete, waren jemals zurückgekommen.

Ich ging weiter durch den Regen. Mein alter Ledermantel schützte mich unzureichend, die Wollhaube auf dem Kopf soff sich an, und bei jedem Schritt fühlte ich die Vibrationen, die Schwankungen des Stegs, der kaum zehn Meter breit die beiden Ufer der Donau miteinander verband. Hier kam man vom Regen in die Traufe, hieß es. Aber es war viel schlimmer. Der zweite und der zwanzigste Bezirk hatten ihre Kulturen, ihre Erben bürgerlichen Lebens, und bei allem Elend war dort die Zivilisation nach wie vor zu Hause. Das Riesenrad stand noch immer im Prater. Noch war man in Wien. Die jüdische Gemeinde florierte, trotz aller immer wieder aufflammender antisemitischer Tendenzen hielt sie sich wacker, und gab den beiden Bezirken Struktur und Halt. Der zweiundzwanzigste Bezirk aber war nicht ganz ohne Grund als der Arsch von Wien bekannt.

Vor mir erstreckte sich ein schwarzbraungraues Meer von Armenhütten kilometerweit über das linke Donauufer. Auch auf der anderen Seite gab es viele solche Behausungen. Die Obdachlosen nutzten jeden Winkel der Stadt, um irgendwo eine Bleibe zu errichten, um nicht den Unbillen des Wetters ausgesetzt zu sein. „Um zu leben“ war die beste Formulierung dessen, was sie anstrebten. Über acht Millionen Menschen, davon fünf Millionen Obdachlose, meist Analphabeten, bevölkerten das Wien des neuen Jahrtausends, und die Stadt konnte sie einfach nicht aufnehmen.

Ich wußte genau, daß Wien einmal eine prachtvolle Stadt gewesen war, ästhetisch, bezaubernd. Alte Photos zeugten davon, und man konnte die alte Pracht noch sehen, an manchen Ecken, mit viel Phantasie, und mit der Willenskraft, das Elend nicht sehen zu müssen. Ich wußte, daß Wien einmal zu den reichsten Städten dieser Welt gezählt hatte, auch kulturelles Zentrum Europas gewesen war, Hauptstadt der Musen. Jetzt war Wien nur mehr eine Hauptstadt eines überalterten, hoffnungslos überbevölkerten, hilflosen Kaiserreichs.

Die Donau stieg unaufhörlich. Eine Naturkatastrophe höchsten Ausmaßes war im Begriff, über uns hereinzubrechen. In Oberösterreich, Salzburg, der Steiermark und Niederösterreich waren hunderttausende in Fluten ums Leben gekommen. Besonders viele der Ärmsten, die bevorzugt an den Flüssen lebten, um wenigstens mit Wasser versorgt zu sein, wurden einfach mitgerissen. Unzählige schlampig und illegal errichtete Behausungen waren einfach in sich zusammengefallen. Auf der Donau waren normalerweise unzählige Fähren unterwegs, manche mit offizieller Genehmigung, andere, die von den meisten Menschen bevorzugt wurden, waren nicht mehr als bewegliche Hausboote, die den Besitzern ein kleines Zusatzgeschäft einbrachten. Demensprechend verhielt es sich mit den Sicherheitsvorkehrungen. Während die großen Fähren unter den Argusaugen der Beamtenschaft der Stadt Wien und auch des kaiserlichen Sicherheitshauptamtes korrekt die fünfzig Heller nahmen, die Maximalzahl an Passagieren einhielten, und die Sicherheitsbestimmungen beachteten, kam es nicht selten vor, daß viel kleinere Boote mit wesentlich mehr Passagieren schneller über die Donau fuhren, allerdings für zwei bis fünf Heller pro Person.

Jetzt aber waren kaum mehr Fähren unterwegs, denn die Donau war zu einem brutalen Strom geworden, der bereits jetzt Teile des zweiten Bezirks unter Wasser setzte, und erbarmungslos alles fortriss, wessen er habhaft werden konnte. Obwohl es die meisten Menschen vorzogen, zu Hause zu bleiben, war die Anzahl derer, die dennoch über die Donau wollten, groß genug, um die Brücke hoffnungslos zu verstopfen.

Das Kagraner Ende der Brücke war ein Fußballfeldgroßer Platz voller Schlamm. Von ihm konnte man zur Wagramer Straße gelangen, die ein paar Meter höher gelegen war, und einst hier in der Reichsbrücke ihre direkte Fortsetzung gefunden hatte – bis zu diesem denkwürdigen Tag, Anfang 1973, als über dreitausend Menschen mit ihr in die kalten Fluten gerissen worden waren. Es hieß, die Brücke sei zu sehr belastet gewesen, sie hätte den Massen nicht mehr standgehalten. Jetzt brandeten die Wassermassen gegen die Holzkonstruktion, die erstaunlicherweise bis jetzt gehalten hatte. Aber wie lange noch? Ich beschleunigte meine Schritte, um schnell die Brücke zu verlassen.

Bei diesem Wetter wateten hunderte Menschen fast Knöcheltief durch den Schlamm, der sich unweigerlich bildete und immer schlimmer wurde. Zahlreiche Fahrzeuge hatten sich festgefressen, und mindestens zwanzig Junge Männer warteten nur auf die Gelegenheit, gegen ein paar Heller helfend einzugreifen. Um präzise zu sein: Sie warteten auf alle Gelegenheiten, etwas Geld zu verdienen.

Auch ich mußte durch den Schlamm. Meine Gummistiefel kamen mir sehr zustatten, und ich hörte und spürte den Boden eher, als ihn zu erleiden. Hinter zahlreichen Rücken, verfolgt von ebensovielen Menschen, watete ich über den Platz, und versuchte, wie die meisten, einen möglichst trockenen Fußweg zu erreichen. Links von mir erstreckte sich ein Labyrinth von winzigen Hütten, dahinter befand sich die große Wiener Müllhalde. Irgenwann in den frühen Sechzigern hatte jemand die Idee gehabt, einen Park und eine Blumenschau einzurichten, aber die schon damals zahlreichen Elendsbewohner, die zum Gutteil von dieser Deponie lebten, fürchteten, dadurch um Lebensraum und Einkommen gebracht zu werden, und drohten mit Gewaltmaßnahmen gegen jeden, der diese Deponie beseitigen wollte. So war die Idee mit dem Park im Sande verlaufen. Ich hatte einmal einen Entwurf für einen „Donau-Turm“ gesehen, der den Park überragen hätte sollen. Ein Modernistischer Bleistift mit einem dicken Ende, soweit ich mich erinnerte. Jedenfalls war nichts draus geworden.

Bis zu den Knöcheln voller Schlamm, versuchte ich mich in den vielen Gäßchen zu orientieren. Max hatte zu mir gesagt, daß wir uns bei „Peter dem Raunzer“ treffen würde – jeder kannte diesen Platz, ich brauchte also nur zu fragen. Mir kam ein junger Mann entgegen, der ein Hemd und eine Stoffhose trug, und der sich durch eine Plastikplane über dem Kopf zu schützen versuchte. Ich sprach ihn an „Bittschän, wo ist der Peter der Raunzer?“ Er studierte mich kurz von Kopf bis Fuß, und machte dann den zu erwartenden Vorschlag „zwanzg Heller, daunn zag i das“. „Nein danke“ murmelte ich brüsk und wandte mich der Menge zu. Ein paar Meter weiter fragte ich den nächsten. Er wollte vierzig Heller. Ich versuchte es mit einer alten Frau. „Jo Marantjosef! Gengans weg mit den!“ rief sie und bekreuzigte sich, und eilte davon.

Ein junger Bub, etwa neun oder zehn Jahre alt, tat es dann für zehn Heller. Und viel mehr war ich nicht bereit, auszugeben. Wir liefen kreuz und quer durch das Elendsquartier. Es stank entsetzlich nach einer Mischung aus Verwesung, Schweiß, Exkrementen, Rauch, und anderen Elementen, die ich beim besten Willen nicht identifiziern konnte. Unzählige Menschen kamen uns entgegen, manche von ihnen starrten mich mit unverhohlener Gier an. Letztlich erreichten wir eine Hütte, die größer war als die der Anderen. Im Inneren standen zahlreiche Männer und ein paar Frauen rund um eine improvisierte Bar, und tranken aus weißen Plastikbechern. Ich war nicht erpicht darauf, zu erfahren, woher sie diese Becher, respektive den Inhalt, bezogen hatten. Noch weniger war mir danach, diesen Inhalt kennenzulernen, denn der Alkoholduft übertönte sogar den allgemeinen Umgebungsgeruch – aber genau das war in gewisser Hinsicht ja auch die Funktion des Etablissements. Aber ich war an dieser Bar ja nicht interessiert. Ich wollte zu Max. Er hatte gesagt „Die Hütte, gleich rechts daneben“. Und so klopfte ich an eine Tür mit abblätternder blauer Bemalung, und erst jetzt viel mir auf, daß es sich um eine der älteren Ziegelbauten in diesem Gewirr handelte, die etwas größer waren als die anderen. Max schien, was die Wohnstatt betraf, fast dem alten Adel hier angehören, denn dieser Bau war zweifellos ein Objekt der Begierde. Dennoch konnte und wollte ich mir nicht vorstellen, was Max dazu bewogen hatte, ausgerechnet hier Quartier zu beziehen.

Die Tür öffnete sich knarrend. Eine grauhaarige, gebückte alte Frau öffnete, und begrüßte mich mit den Worten „Bitte, gnä Herr, kummans eina. Der Herr Max is oben, wenns bitte weitakumman“. Ich folgte ihrer Aufforderung, und sah für einen kurzen Augenblick ihre Behausung, die aus einem Raum bestand. Etwa zwanzig Quadratmeter, blinde Fenster, ein alter Holztisch, übersäht von verschiedensten Textilien, daneben ein Teller und ein Metallbecher, offensichtlich hatte ich sie gerade beim Essen gestört. Ein Vorhang trennte einen Teil ab, der über ein Fenster hinten hinaus verfügte. Es schloss nicht ganz dicht, ich konnte einen leichten Luftzug spüren. Das Prasseln des Regens drang mühelos in den Raum vor, der Lärm der Bar brandete nur dumpf an die Fenster. Hinter dem Vorhang schien sich so etwas wie eine Küche und ein improvisiertes Badezimmer zu befinden. Insgesamt war die Hütte peinlich sauber gehalten, aber der Muff des alten Holzes und die Düsternis beherrschten das Interieur nachhaltig. Wir gingen den Vorhang entlang nach hinten, wo eine Holztür ins Freie führte.

Damit rechnend, naß zu werden, sah ich, daß ich mich immer noch auf einer überdeckten Terrasse befand. Links von mir führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Alte deutete mir weiterzugehen. „Do oman findens den Herrn Max.“, und wandte sich durchaus nicht unfreundlich ab. Ich stieg die knarrende Treppe vorsichtig hinauf – sie war steil, und das Geländer niedrig – und erreichte kurz darauf einen schmalen Balkon, mit einer offenen Tür. Ich mußte mich bücken, um einzutreten, aber dann stand ich in einem hellblau gestrichenen, erstaunlich hellen Raum, der eine Matratze, einen Schreibtisch, genau zwei Stühle, eine Kiste hinten im Eck, eine Waschschüssel, einen Spiegel und ein kurzes Bücherregal enthielt. Max saß auf einem der Stühle, hinter dem Schreibtisch, stand sofort auf, und kam zu mir, um mich zu begrüßen. „Hast du hergefunden?“ „Nein, ich hab zehn Heller bezahlt.“ „Oh je“ – er verzog schmerzhaft sein Gesicht. Aber dann nahm nahm er ein Hemd von dem anderen Stuhl, warf es auf seine Matraze, und bedeutete mir, Platz zu nehmen. „Wie lebt es sich?“ fragte ich ihn. „Eigentlich gut“ antwortete er. „Ich mache es mir natürlich leicht, weil ich quasi eine Luxusquartier bezogen habe“. „Darüber läßt sich streiten“ warf ich ein, und setzte hinzu „Mir wär es wirklich lieber, du tätest noch bei uns wohnen.“

Bei uns – das war ein altes Zinshaus in Ottakring, Küche/Kabinett, Klo am Gang, und Wasser in der Wohnung. Kein Luxus, aber wenigstens ein Teil der Annehmlichkeiten menschlicher Zivilisation. Max hatte eine Zeitlang im Nachbarhaus gewohnt, und ich konnte mich noch gut an seine kleine Wohnung erinnern. Die dreißig Quadratmeter waren ihm fast zuviel gewesen. Er hatte nie viel besessen. „Die wesentlichen Besitztümer sind da drin“ pflegte er zu sagen, und auf deinen Kopf zu deuten. Wenn er sagte, daß er im Überfluß lebte, war man im Allgemeinen versucht, das als einen zynischen Witz aufzufassen, aber wenn man ihn etwas besser kannte, verstand man bald, wie ernst er diese Worte meinte, wie ernst er das meiste meinte, was er sagte.

„Du weißt doch, ich bin wissenschaftlich hier.“ Max war wissenschaflich hier. Er schrieb an einer Dissertation über den Zusammenhang zwischen historischen Ereignissen und der Populationsentwicklung. Er war bereits Doktor der Biologie, Doktor der Mathematik, und hatte gerade Geschichte studiert. Ich war weder Mathematiker, noch Biologe, noch auch Historiker. Ich war ein durchschnittlicher Programmierer. Max wußte das, und erklärte mir stets alles so, daß ich es auch verstand. „Das interessante ist, daß der soziologische Mikro- und Makrokosmos sich in vieler Hinsicht ähneln. Mehr noch, manche Größen korrelieren ganz plump. Nirgends kann man die nackte Menschlichkeit besser studieren als hier.“ „Könntest du nicht den Tag über hier sein, und die Nacht bequem verbringen?“ fragte ich ihn, eigentlich bar jeder Hoffnung, er könnte doch noch zur Vernunft kommen. „Das geht doch nicht“ klärte er mich auf, als hätte er ein Kind vor sich. „Wie schon Heisenberg erkannt hat, beeinflußt der Beobachter stets das Experiment. Schau, ich komme hier her mit meinen vorgefaßten Meinungen und Einstellungen, und filtere jede Erkenntnis zu Tode. Wenn ich jemals die Wahrheit erkennen will, dann muß ich einer von ihnen sein. Ich muß mich selbst genauso dieser Situation aussetzen, wie die anderen ihr ausgesetzt sind. Wenn ich nicht jeden Tag mit ihnen durch den Schlamm wate, und mich, wie sie auch, frage, ob ich am Abend hungrig oder satt sein werde, und mich mit ihnen den Repressalien der Polizei aussetze, dann werde ich meine eigene Entwicklung nie aus dem Experiment herausnehmen können. Paradoxerweise ist die einzige Möglichkeit, den eigenen Einfluß wo herauszurechnen, die, sich selbst vermehrt einzubringen. Und deswegen muß ich hier bleiben, wenn ich jemals Erfolg haben will“.

Ich spürte, daß er recht hatte. Max nahm diese Sache sehr ernst. Und eigentlich tat ich das auch, aber während ich, wie alle anderen Menschen, die Probleme sah und über sie verzweifelte, hatte Max beschlossen, aktiv etwas beizutragen. Max war entschlossen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um der Überbevölkerung Herr zu werden. Dieser Bestimmung widmete er sein Leben. Ich hatte ihm meine Hilfe in Grenzen angeboten. Wie die meisten anderen Menschen war auch ich ein Freund der Bequemlichkeit und der Kompromisse im Leben. Nicht so Max. Er war mit einer eisernen Willenskraft gesegnet, neben einer hohen Intelligenz.

Einer weiteren Hoffnung folgend, fragte ich Max „Wie lange gedenkst du noch, hier zu beiben?“ „Das kommt sehr darauf an, wie schnell ich zu einem Ergebnis komme“, antwortete Max. „Solange es ein Elendsviertel hier gibt, sollte ich nicht aufgeben.“ „Mein Gott, willst du ewig dableiben?“ fragte ich schockiert. „Wer wird denn so pessimistisch sein?“ fragte Max zurück, „Traust du mir so wenig zu?“, und er grinste über beide Ohren, als ob er mich erwischt hätte. Und das hatte er auch, denn ich bemerkte erst jetzt, wie wenig ich an einen Erfolg glaubte, so sehr mir die Notwendigkeit seiner Bemühungen einleuchtete.

Eigentlich war ich ja gekommen, weil Max mich gebeten hatte, an einem Experiment teilzunehmen, von dem er sich viel versprach. Wir hatten uns im Hof der Universität getroffen, an einem der wenigen Orte, denen man das allgemeine Elend nicht ansah, und das, nachdem wir uns ein paar Monate nicht gesehen hatten. Er hatte mich sofort gefragt, ob ich ihm mit einem wichtigen Experiment helfen konnte, und ich hatte sofort zugesagt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung gehabt, wo er wirklich wohnte – hauste – aber ich hatte noch nie angenommen, daß Max irgendetwas selbstverständlich tat. Ich kannte seine Zielstrebigkeit seit Jahren, aber ich hatte eher erwartet, Max in einem Palais oder wenigstens einer Villa vorzufinden, etwa in Döbling, oder in Hietzing, wo unsereins eine schriftliche Einladung brauchte, um gewisse Stadtteile zu betreten. Doch es kam völlig anders.

Ich wollte Max gerade fragen, worin sein Experiment bestand, als Schreie von draußen zu hören waren. Ich dachte spontan an eine Keilerei, aber Max war schon dabei, das eine Fenster an der Stirnseite des Hauses zu öffnen, das ich vorher nicht bemerkt hatte – es war nur durch Fensterläden geschlossen gewesen. Wir beide sahen nach draußen. Max rief „Was is los?“, und ein wild gestikulierender, mittelalterlicher Mann von schmaler Statur, und mit tief eingegrabenen Gesichtszügen antwortete, wobei er durch den Zigarettenstummel in seinem Mundwinkel kaum behindert wurde: „De Bruckn. De Bruckn bricht zaumm!“. „Komm mit!“ stieß Max hervor, und stürzte aus dem kleinen Raum, ich hinterdrein. Wir sprangen mehr die Treppe hinunter, als wir kletterten, hielten uns nicht damit auf, durch das Haus zu gehen, sondern stürzten unter Maxens Führung die Hinterseite einer etwa zweieinhalb Meter hohen Ziegelmauer entlang. Irgendwo befand sich ein altes Tor, durch dieses gerieten wir auf eine kleine Gasse, die von Holzhütten gesäumt wurde. Unzählige Menschen befanden sich in dieser Schmalen Gasse, und immer mehr von Ihnen strömten in unsere Richtung.

Zahlreiche durchlaufene Kreuzungen und viele enge Gassen weiter öffnete sich das Elendsviertel zur Wagramer Straße hin. Ich sah das Ausmaß der Katastrophe momentan. Die Holzkonstruktion, die so lange gehalten hatte, neigte sich langsam flußabwärts, wurde noch von einigen starken Teilen gehalten. Viele Menschen trieben in der Starken Strömung rasch davon, viele hielten sich irgendwie fest, und versuchten, das Ufer zu erreichen. Der Fuß der Brücke war voll von Helfern, die den Glücklichen, die es noch rechtzeitig geschafft hatten, beim hinabklettern behilflich waren. Die Struktur ächzte und stöhnte, als versuche sie krampfhaft, das Unglück abzuwenden. Etliche Menschen hingen noch an der Außenseite, schrien, und warteten auf Hilfe. Immer wieder stürzten Gestalten in die Donau. An einer Stelle hing ein Auto gerade noch in der Seilkonstruktion fest, die die Brücke seitlich gesichert hatte. Die Insassen – eine Familie? zwei Frauen und ein Mann, offenbar der dünnen Mittelschicht angehörig, denn wer mochte sich sonst ein Auto leisten können? - waren gerade dabei, aus dem Fahrzeug zu klettern, als das oberste Seil mit einem lauten Knall nachgab, und der alte Fiat mitsamt den drei Insassen majestätisch in den Fluß klatschte.

Das Gefühl der Unwirklichkeit machte sich in meinem Kopf breit. Ich hatte den Eindruck, als sähe ich einen Film, der mich letztlich gar nichts anging. Ich sah Max losrennen, und lief wie ferngesteuert hinterher. Max erreichte den Fuß der Brücke, und sah eine Frau mit ihrem kleinen Sohn, die irgendwo im Gebälk saßen und wie versteinert hinunter starrten. Max kletterte hinauf in das Gerüst, warf sich den Buben über die Schulter, beruhigte die Mutter kurz, die im Übrigen nicht reagierte. Als er zurückkletterte, war ich schon da, um ihm das Kind abzunehmen, denn auch ich hatte meine Lähmung inzwischen überwunden. Der kleine schrie und bettelte, zu seiner Mutter gebracht zu werden, und ich konnte doch nichts tun, als ihn festzuhalten, und beruhigend auf ihn einzureden. Max war inzwischen wieder bei der Frau. Vorsichtig nahm er sie an der Hand, sicherte sie schließlich mit seinem Arm und bugsierte sie vorsichtig durch das Holzgerüst. Schließlich erreichten die beiden das Ufer. Die Mutter nahm wortlos ihren Sohn, und lief, ohne uns auch nur anzusehen, davon. „Das ist der Schock“ kommentierte Max. Dann kletterte er schon wieder auf die langsam kollabierende Brücke, und half den nächsten Kandidaten. Auch ich kletterte ein paarmal hinauf, aber ich konnte meine Angst kaum unter Kontrolle halten, geschweige denn der Kälte widerstehen, die sich meines Körpers bemächtigte.

Inzwischen waren offizielle Kräfte angelangt. Polizisten versuchten unbeholfen, die Menschenmenge zu organisieren, Feuerwehrleute kletterten, durch Gurte gesichert, auf die Brücke, und taten es Max gleich. Zahlreiche Helikopter kreisen über der Szene, etliche Reporter, aber auch zwei Hubschrauber der kaiserlichen Luftwaffe. Max war inzwischen dazu übergegangen, sich um die Geretteten zu kümmern. Etliche waren unbestimmbaren Grades verletzt. Max redete auf sie ein, und führte sie zu den ebenfalls inzwischen eingetroffenen Wagen des Roten Kreuzes. Aber man konnte leicht erkennen, daß die paar Ersthelfer mit der Masse der Verletzten nicht fertig werden konnte. Außerdem drängten nun immer mehr Menschen auf den Platz, einerseits Schaulustige, andererseits Bewohner des Elendsviertels, die hofften, ihre Angehörigen im Tumult zu finden.

„Komm besser mit“ rief Max mir zu, und ich folgte ihm, etwa hundert Meter die Wagramerstraße entlang. Immer noch regnete es in Strömen. Schließlich standen wir unter einem kleinen Vordach. Wir konnten die Brücke gut sehen. In dieser Sekunde wurden wir Zeugen, wie sich die Holzstruktur nach links beugte, und langsam ins Wasser fiel, mit sich hunderte Menschen und Fahrzeuge reißend. Ein Schrei des Entsetzens wogte über der ohnehin hysterisch lauten Menge. „Hier können wir nichts mehr tun. Verschieben wir das Experiment lieber. Du mußt jetzt über die Floridsdorfer Brücke nach Hause. Ich bring dich hin“ bot Max mir an. Wir gingen schweigend bis zur Alten Donau, um dem allgemeinen Geschehen auszuweichen, und bewegten uns schließlich auf der Straße, die die alte Donau entlangführt. Links und rechts erstreckte sich ein unübersichtliches Heer von Hütten, tausende Menschen gingen um uns herum ihren Geschäften nach. Die Gehsteige waren schwarz von Passanten und zum Teil von Straßenhändlern besetzt, die ihre kleinen Buden dort aufstellten, wo sie sich Geschäft erhofften. Wir wanderten die Fahrbahn entlang, wobei zahlreiche Fahrzeuge immer wieder knapp an uns vorbei fuhren. Ein paar Hunde versuchten, Essbares zu ergattern. Der Regen machte alle gleich. Wir wanderten stumm weiter.

Nach einer halben Stunde erreichten wir die Floridsdorfer Brücke. Auch sie war schwarz von Passanten und Fahrzeugen. Der Verkehr stockte ohnehin schon, aber dennoch strömten von allen Seiten immer mehr Fahrzeuge und Menschen auf die Brücke zu. „Ich will, daß du ein Taxi nimmst!“ sagte Max. "Es geht schon .." hub ich an, aber Max schien meine Reaktion erwartet zu haben: "Du nimmst ein Taxi! Du kannst den Schock nicht einschätzen. Glaub mir, du wirst es brauchen!" „Wann soll ich wieder kommen?“ fragte ich ihn. „Bald. Ich werde dich benachrichtigen.“ antwortete er. Und er zog drei Kronen aus der Tasche. „Das sollte reichen, um nach Hause zu kommen.“ meinte er, als er mir die drei Kronen in die Hemdtasche steckte. „Das ist zuviel!“ rief ich, aber er schüttelte den Kopf. „Nicht heute!“.

Ich war noch immer außerhalb meiner Selbst, aber langsam kroch Leben in meinen Geist zurück. „Tut mir leid wegen dem Experiment“ sagte ich. „Ich glaube, es gibt schlimmere Schicksale“ gab er zurück. „Außerdem ist das, was passiert, die Wirklichkeit. Das Leben ist Wirklichkeit. Unsere Pläne sind es nicht.“ Wir überquerten die Prager Straße. Max winkte einem Taxi, das auch prompt hielt. Mit den Worten „Wir sehen uns noch“ verschwand er in der Menge. Ich stieg in den alten Benz, der auch schon bessere Zeiten gesehen haben mochte, und schloß die Tür mit einem Knall. Ein paar Sekunden lang fühlte ich mich, als wollte ich in dieser weichen Polsterung einschlafen. Der Fahrer betätigte den alten mechanischen Taxameter, gab Gas, und fragte „Wohin da Hea?“ „Ottakring“ antwortete ich. Der Fahrer fuhr an, und bemerkte „Des wird oba laung. De Bruckn is vastopft.“ „Wurscht“ antwortete ich kurz, und er war zufrieden. Alle Fenster waren geschlossen, der Regen prasselte an die Scheiben und auf die Karosserie. Gedämpft drangen die Geräusche der Straße zu uns vor. Ein kaputter Auspuff sang das Lied vom Tod, der ganze alte Wagen vibrierte fröhlich, belästigte mich aber nicht über Gebühr. Im Gegenteil. Ich fühlte mich soweit geborgen und warm, während ich die Geschehnisse der letzten Stunden zu verdrängen versuchte.

Langsam schafften wir es durch den Stau auf die Kanal-Brücke, und ich fragte mich für einen Moment, ob diese wenigstens halten würde. Aber dann beschloß ich, etwas mehr Vertrauen zu haben. Wir stockten und standen die ganze Breite der Donau entlang. Viel zu hoch, viel zu schnell, strömten die braunen Fluten. Drüben, stromabwärts, sah ich, was von der Hilfs-Reichsbrücke übergeblieben war – nämlich nichts. Ich benutzte soeben die einzige Donaubrücke, die es in Wien noch gab. Wieder fuhr der alte Mercedes an, wich ein paar Holzkarren aus, steckte wieder irgendwo fest, bewegte sich weiter. Die Scheibenwischer verrichteten unverdrossen ihre Dienste. Dann, nach einer Viertelstunde, hatten wir es geschafft. Wir fuhren die Adalbert Stifter Straße entlang. Noch immer war der Verkehr dicht, tausende Fußgänger wälzten sich am Fahrbahnrand entlang, noch mehr auf den Gehsteigen. Die Luft wurde zunehmend schlechter. Aber hier gab es keine Elendsviertel. Dicht gedrängt säumten hastig errichtete Mietskasernen die Straße, im billigen Betonbau, Zimmer-Küche-Wohnungen, aber sie alle hatten Warmwasser und Elektrizität in den Wohnungen, Klo am Gang. Viele der Bewohner des Müll-Viertels drüben schleckten sich alle zehn Finger ab, wenn sie an so eine Wohngelegenheit dachten. Selbst in den alten Zinskasernen im Westen Wiens beneideten die Bewohner diese hier, weil die hastig geteilten Wohnungsfragmente der alten Zinsbauten nur allzu oft ohne Wasserleitungen auskommen mußten.

Wir näherten uns dem üblichen Gestank. Die Müllverbrennungsanlage am Donaukanal begrüßte uns mit einer grauen Wolke. Die Brücke zwang uns wieder fünf Minuten Wartezeit ab, und auch der Donaukanal führte schmutzig braunes Hochwasser. Die beiden Gerüche mischten sich zu einer perfekten Symphonie des Üblen. Die Kreuzung mit der Heiligenstädterstraße war die eigenliche Engstelle. Ich fragte mich stets, warum man die Brücke nicht einfach über die Heiligenstädterstraße verlängert hatte – wo doch schon eine Brücke da war, wieviel Aufwand wäre das wohl gewesen? Aber dem war nicht so. Das Taxi stand also quer über die Heiligenstädterstraße, trotzdem dem Chaos sowie dem Willen des Querverkehrs. So erreichten wir den Gürtel. Inzwischen hatte der Taxameter über eine Krone und achzig Heller erreicht, ich war also froh, daß Max so vorausschauend gehandelt hatte. Und dann überkam mich der Anflug eines schlechten Gewissens. Max hatte mehr beigetragen, und er mußte doch dorthin zurück. Warum war ich nicht ein wenig mehr für ihn dagewesen?

Aber schließlich war er es gewesen, der mich mit Bestimmtheit in das Taxi gesetzt hatte.

Wir rollten den Gürtel entlang, wobei der Fahrer den zahlreichen Schlaglöchern geschickt auswich. Der Verkehr war immer noch dicht. Der Straßenbelag umso weniger. An manchen Stellen lag das Erdreich zutage. Der Wagen rumpelte wie wild, während der Fahrer den Fahrbahnverlauf unter der Wasseroberfläche erahnte. Links von uns befand sich die Stadtbahntrasse, unter ihr die vielen Geschäfte, und noch mehr Holzbuden, die ihren Besitzern zum Arbeiten und Wohnen zugleich dienten. Rechts standen die zahlreichen alten Zinshäuser, die heute mehr denn je bewohnt wurden. Größere Wohnungen waren im Lauf der Zeit geteilt worden. Die meisten Familien mußten mit einzelnen Zimmern vorlieb nehmen. Ich hatte Glück. Ich konnte mir eine Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung für mich allein leisten. Damit gehörte ich zu den fünfzehn Prozent der Bevölkerung, die mehr als einen Raum für sich allein hatten.

Als wir meine Adresse erreichten, zeigte der Taxameter zwei Kronen und fünfundsiebzig Heller. Ich gab dem Fahrer die drei Kronen, bedankte mich, und stieg aus. Langsam wankte ich die Stiege hinauf in den dritten Stock, betrat meine Eckwohnung, und nahm eine heiße Dusche - welch ein Privileg in dieser Welt! Innerlich fühlte ich mich aber noch länger sehr kalt.

(to be continued)

24
Apr
2010

Die Unvollkommenen (Fred)

"Sie waren im Licht gefangen."

Nachmittag, auf Dreckloch

Seit Jahrzehnten haben wir jedes Artefakt in zwanzig Lichtjahren Umkreis dreimal umgedreht. Wir haben Linguisten auf jeden bewohnten Erdklumpen zu jeder bekannten sapienten Spezies geschickt. Wir haben jede Legende, jedes Stück Geschichte, jede Technologie, Kunst, jedes Stück Kultur in unser Raster einzuordnen versucht.

Die Legenden sprechen eine klare Sprache. Die "Unvollkommenen" sind vor mehr als hunderttausend Jahren in dieser Gegend dominant gewesen. Will man den Beschreibungen glauben schenken, haben sie der Gegend nur Segen gebracht. Unter ihrer Ägide sind viele Probleme einfach verschwunden. Sie sind Göttern gleich auf vielen zivilisierten Welten aufgetaucht, und haben - nun ja - fast Wunder gewirkt.

"Wunder" ist ein starkes Wort. Aber wie nennt man die Lösung von so vielen Problemen? Die Verhinderung der Auslöschung einer gesamten Planetenpopulation durch behutsames bugsieren durch ein Wurmloch in ein anderes, geeignetes System? Die Lösung eines alten Konflikts, der fast zu einem vernichtenden Krieg geführt hätte? Wie nennt man die anderen Dinge? Armut, die über Nacht verschwindet? Umweltprobleme, die auf einmal so gelöst werden?

Sie haben ihre Lösungen niemandem aufgezwungen. Sie waren einfach da, immer freundlich und bemüht, und haben sich die Anliegen der anderen Völker angehört. Bei Bedarf haben sie ihre Hilfe angeboten. Niemals haben sie sich aufgedrängt. Doch eines Tages waren sie weg.

Jetzt stehen wir da, auf 29939848756 (von den Einheimischen 00-00-01 genannt, inoffiziell sagen wir "Dreckloch" dazu) und fragen uns, was diese Inschrift bedeuten soll.

Nun ja, es ist keine Inschrift im üblichen Sinne. Da liegt kein Teil eines Triumphbogens am Boden, in dessen Marmor diese Worte in irgendeiner bekannten oder unbekannten Schrift graviert sind. Sondern das Magnetfeld des ganzen Planeten ist in einer so subtilen Weise verändert, daß diese Botschaft in ihm zu erkennen ist. Die Anomalie des Magnetfeldes - ich verstehe ja nichts davon, aber es wurde mir so erklärt - besteht in dieser komischen Spin-Umkehr, die rhytmisch stattfindet.

Wir machen uns keinen Reim daraus. Angeblich sollen die "Unvollkommenen" gesagt haben, daß sie sich hier niederlassen. Und sie haben verboten, sie hier zu besuchen. Hä, Hä. Uns haben sie es nicht verboten, sie kennen uns ja nicht einmal. Daher sind wir jetzt da.

Unter unseren Füßen erstreckt sich Wüste. Ein dunkelblauer Himmel erstreckt sich bis über den nahen Horizont. Der atmosphärische Druck beträgt nur 0.2 bar. Wir brauchen Schutzanzüge. Nicht nur wegen des Drucks. Es ist erbärmlich kalt hier. Doch alle paar hundert Meter wird die Eintönigkeit der Wüste durch einen Wurm-Turm unterbrochen. Wurm-Türme sind Aufschüttungen, etwa zwei bis drei Meter hoch. Nähert man sich ihnen, entdeckt man, daß sie von weißen, schleimigen Würmern bewohnt werden, die praktisch die gesamte Oberfläche so eines Haufens bilden.

Außer diesen Würmern und einigen anderen niedrigen Organismen haben wir nichts gefunden, insbesondere nichts, was auf Intelligente Lebensformen schließen läßt.

Ich habe jetzt die Oberfläche reichlich genossen. Auf zur Arbeit. Ich habe die Aufgabe, jedes Lebenszeichen nach intelligenter Kommunikation zu prüfen. Aber außer den Ausdünstungen der Würmer haben wir nichts gefunden.

Abend, auf Dreckloch

Ich sitze da und frage mich, was das alles soll. Wir sind keinen Schritt weiter. Die Würmer winden sich träge weiter, und wir machen es ihnen gleich. Keiner der Würmer kommt raus und sagt "Hallo, ich bin Fred, und ich finde eure DNA einfach geil!". Oder wenigstens "Ich bin nicht Fred, kenne keinen Fred, und deine DNA kannst du dir in den Arsch schieben". Zwar wäre erstere Reaktion freundlicher, aber vom professionellen Standpunkt aus sind sie ziemlich gleichwertig – und ziemlich gleich unwahrscheinlich.

Nächster Mittag, immer noch auf Dreckloch

Immer noch sitzen wir auf Dreckloch fest. Die Würmer winden sich immer noch, die Wüste ist noch immer ziemlich tot, und der Himmel ist noch immer dunkelblau. Fern sticht die lokale Sonne über die entsetzliche Distanz bis hier her.

Doch etwas ist passiert. Ein Computer meldet einen Defekt. Die Diagnose hat "ein umgefallenes Bit" entdeckt, wie ein Techniker sich ausdrückt. Ich stelle mir ein Bit mit dummem Gesicht im blauen Anzug vor, das zu mir sagt "Hallo, mein Name ist Fred, und ich finde eure Daten zum Umfallen Geil". Gott, ist das langweilig.

Abend, ratet einmal, wo

Es ist langweilig. Ich habe zum Spaß die Sonnenstrahlung nach intelligenten Signalen untersucht. Die Sonne hat mir daraufhin erzählt, daß sie Fred heißt, und unsere Sonnenschutzfolien überhaupt nicht amüsant findet...

Nein, nicht ganz. Die Sonne hat nichts erzählt. Sie hat geschienen, und das nicht zu schlecht, mit hohem UV-Anteil. Ich versuche weiterhin, mich bei Laune zu halten.

Früh am Morgen

Wir wurden über Rundruf darüber informiert, daß wir alle Arbeiten innerhalb einer halben Stunde einstellen sollen, weil ein systemweiter Check aller Anlagen vorgenommen wird. Großartig. Ich hätte die nächsten zwei Stunden geschlafen. Jetzt bin ich wach, langweile mich, und kann nicht das Geringste dagegen tun, weil sämtliche Systeme gesperrt sind. Wie überaus rücksichtsvoll vom Boss!

Spät am Morgen

Der Systemcheck dürfte ohne Probleme über die Bühne gegangen sein, denn alle Systeme wurden wieder freigegeben. Großartig, ich versuche gerade, dem Dünenverlauf intelligente Kommunikationsversuche unterzuschieben. Die Dünen versuchen krampfhaft, mir irgendetwas mitzuteilen. "Ich b. b. bbb. bin F. F. Fr. Frr. Fred!" sagen sie, "D. D. D.. Du b. b. bist ss. s. s. se. s. sehr r. r. r. rücksichtslos mit deinen Stiefeln!"

Die Dünen sind genauso gesprächig wie die Sonne.

Nachmittag, immer noch da

Nachdem auch das Mittagessen nicht viel intelligentes zu kommunizieren wußte, mache ich jetzt etwas wahrhaft idiotisches: Ich filme das Wurmgewusle und analysiere es. Das Signal ist komplex und vielfältig. Natürlich springen sämtliche Algorithmen und Heuristiken sofort an. Ha. Sie werden sich ein paar Minuten anstrengen und schließlich beruhigen.

Abend, ganz baff

Der Computer meint, daß da definitiv willentliche, nicht triviale Muster zu erkennen sind. Ich gehe rüber in die Biologie und frage die Typen, wie die Würmer gesteuert werden. Zunächst schauen sie mich etwas mitleidig an. "Das sind Würmer, keine ferngesteuerten Rennautos!". Aber ich insistiere, daß es eine Signalisierung zwischen den Würmern geben muß. Die Typen mit den mitleidigen Gesichtern nehmen meinen Einwurf schließlich doch ernst, und stellen fest, daß es so etwas wie ein induktive Wirkung geben muß. Aber wir messen keine Radiosignale oder sowas, daher kann dieser Mechanismus nicht in Frage kommen.

Später Abend, ganz frustriert

Ein Mathematiker hat sich die Muster angesehen. Er sagt, es handelt sich nicht notwendigerweise um intelligentes Verhalten. Er zeigt mir ein paar Beispiele sehr dummer Lebensformen, die sich scheinbar intelligent verhalten. Ich mit meinen blöden Flausen. Warum kann ich nicht einfach ruhig bleiben, und mir solche Enttäuschungen ersparen?

Morgen, gelangweilt

Ich analysiere unser Schiff. Etliche Energieformen taste ich ab, und höre das Schiff sagen "He, ich bin Fred, und ich nehme bald Antibiotika, um euch Nervensägen endlich loszuwerden..."

Das Schiff IST intelligent im Sinne der Kommunikation, die es durchführt. Es ist nicht intelligent im Sinne der Lernfähigkeit. Ich betrachte es als Übung. Ich führe ein paar Scans durch, korreliere sie - dann renne ich zu den Typen in der Biologie, und rufe durch die Tür: "Sensation, das Schiff ist intelligent!!!" Die Typen, die sich jetzt in meiner Vorstellung eingentlich vor Lachen krümmen sollten, schauen mich mehr verständnislos als mitleidig an. Können sie nicht wenigstens sagen "Mein Name ist Fred, hau ab"? Pfeif drauf.

Vormittag

Ich sehe eine Analyse, die mir bekannt vorkommt. Es ist das Ergebnis des Wurmgewusels. Na, Moment, da habe ich wohl das falsche File erwischt. Ich wiederhole die Sache. Das Signal bleibt gleich. Ich hab leider keine Ahnung, was ich da genau erwischt habe, und begebe mich schnellstens in die Physik. Als ich reinkomme, meint grade eine der Anwesenden "immer diese Deppen in der Biologie.."; aber sie stoppt im Redefluß. Meine Sympathien sind ihr trotzdem sicher. Ich trage mein Anliegen vor. Die Physiker sehen den Mess-Mischmasch und klären Schritt für Schritt auf, welche Energieformen da beteiligt sind. Dann fragen sie mich, wozu ich das wissen will, und machen große Augen, als ich ihnen von den Würmern erzähle. Mit drei Physikern im Ärmel betrete ich sehr selbstbewußt die Biologische. Die Biologen sind etwas konsterniert, aber sie kooperieren bald und klären, wie und vor allem mittels welcher Organe die Würmer die besagten Signale messen.

Nachmittag

Ich hab noch nichts gegessen. Mein Magen knurrt. Sämtliche Idi... äh Wissenschafter sitzen in meinem Büro/Labor/Schlafzimmer (letzteres stört mich am meisten) und hören mir andächtig zu, wie ich versuche, so laienhaft wie möglich auszudrücken, wie ich durch gezielte Manipulationen die Reaktionen der Würmer analysieren will. Ich lasse zuerst das gesamte Standardrepertoire ablaufen. Die Würmer werden mit Inhalten bombardiert.

Nachmittag und fünf Minuten

"Achtung! Sämtliche Aktivitäten einstellen! Systemcheck!"  Ein enttäuschtes Aufheulen geht durch die kleine Menge. Ausgerechnet jetzt. Ein vorbeikommender Techniker erzählt von massenhaften Prüfsummenfehlern in mehreren Computern. Einer der Physiker klatscht sich auf die braungebrannte Denkerstirn. "Ist doch klar!". Uns ist es nicht klar, aber wir folgen ihm in den Kontrollraum. Dort sitzt der Kapitän und sieht den Technikern zu. Der Physiker legt Rücksichtslos seine Theorie dar. Unsere Signale dürften die Rechner lahmgelegt haben. Zwei, drei Versuche werden gemacht. Die Theorie hält. Die Versuche werden verboten. Ich bin sehr enttäuscht, weil ich nun nicht mehr erfahren werde, was die Würmer zu sagen haben.

Ein Nachmittag fünf Jahre später

Andere als ich sind mit veränderten Rechnern noch einmal hingeflogen und haben die Sprache der Würmer analysiert. Sie sind intelligent, das heißt, im Kollektiv. Dieses Kollektiv erstreckt sich über den ganzen Planeten. Nach jahrelangen Kommunikationsversuchen ist dann eine Debatte zustandegekommen, die im Abriß dieses zu Tage gebracht hat:

Die Würmer wollen nicht entdeckt, schon gar nicht als intelligent erkannt werden.
Sie sind die ehemaligen "Unvollkommenen". Sie haben die Probleme der anderen immer nebenbei gelöst, um ihrem Ziel näher zu kommen. Ihr Motiv ist immer das Streben nach Vollkommenheit gewesen. Vor etwa hunderttausend Jahren haben sie in einem Lösungsansatz einen Fehler entdeckt. Darauf haben sie die Vollkommenheit nicht mehr in der Interaktion mit anderen gesucht, sondern in der Isolation. Oder auch: Der Schmerz über die Unvollkommenheit ist zu groß gewesen, sie haben sich geschämt.

Die Inschrift sollte sie stets daran erinnern, daß draußen im Licht der Welt auch die Unvollkommenheit zu Tage tritt, der man nicht entrinnen kann.

Zum Schluß habe ich sie auch noch einmal besucht. Ich habe ihnen eine Frage gestellt: "Wozu wolltet ihr eigentlich vollkommen werden?".

Es scheint, daß diese Frage etwas ausgelöst hat. Sie haben nach eigener Aussage nie darüber nachgedacht. Die Antwort ist erst nach ein paar Wochen erfolgt. Und sie dürfte sie nachhaltig verändert haben. Jedenfalls haben sie dann ihre Isolation aufgegeben und weilen wieder unter uns.

Der Schluß-Gag

Sie haben mich damals gebeten, ihnen einen Namen zu geben. Das habe ich getan, und sie mögen diesen Namen wesentlich lieber als den anderen, der sie ständig an ihre Vergangenheit erinnert. Sie heißen jetzt Fred.

16
Apr
2010

Beschenkt

Reich beschenkt und glücklich schwebend
neugeboren, singend gehe
ich von dannen. Freudig lebend
dank ich dir für deine Nähe!

26
Feb
2010

Wenn der Frühling ein Band hätte

das man zu seiner Eröffnung durchschneiden solle
ich wär sofort dabei
mit einer Schere, einer schönen, bunten, lang und scharf
lauschend der Kapelle im Hintergrund
die ersten Blumen blühend neben Ententeichen
und zwischen kleinen Wäldern
wie eine Brücke wär der Frühling
der vom Winter in den Sommer führt
einladend, altes Holz neu lackiert
gußeiserne Geländer mit Schnörksel
wie sie eben üblich waren, damals
als man noch gebaut hat, statt zu errichten
und diese Brücke führt über einen kleinen Wasserarm
unweit rauscht' ein Wasserfall
unweit quacketn Enten, verfolgt von Erpeln
unweit kreischten Kinder
und die Menge stünd und freut' sich
auf die Eröffnung des Lebens in diesem Jahr
und säh mir zu, wie ich mit dem Zylinder auf dem Haupt
nach einer erfreulich kurzen Ansprache
das Band durchschnitte
und alle im Frühling willkommen hiesse

wenn der Frühling ein Band hätte.

5
Feb
2010

So herrlich deppert und gestört

Beschwerst du dich wirklich, daß ich dem Wahnsinn fröhnend, unendlich subtil, meine Anerkennung dröhnend, dich so mögen will?

Sag mir ernsthaft, ist es so verfehlt, daß die Art wie du bist, die du selber gewählt, eine lustige ist?

Ist es denn so beklemmend? Wenn ich dich doch so mag, wie du nun einmal spielst, und ich mich nicht mehr frag, was du eigentlich willst?

Bist du nicht zufrieden, daß ich mich amüsiere, dieses Spiel gerne teile, deinen Wahnsinn berühre, ab und zu eine Weile?

Weißt du nicht was es heißt?

"Du bist so herrlich deppert und gestört, und ich geniesse es jedesmal!"

Wenns dir nicht paßt - an mir solls nicht liegen :-PPP

13
Okt
2009

Kennst du die Seele des Herbstes?

Kennst Du die Seele des Herbstes? Die Kälte ist willkommen, sie betaeubt deine Finger und dein Gesicht, und während du an der kuehlen Wirklichkeit vorbeispazierst, moege sie auch deine Gefuehle betaeuben. Die allumfassende Traurigkeit umhuellt dich wie ein warmer Mantel und bieter Schutz vor den Stacheln und Kanten des Lebens, die einmal zu oft deine schmerzende Seele angerissen haben. Die Straße ist trostlos wie der Himmel auch, ein Zaun verbirgt schmuckloses Gelände, Menschen frieren an dir vorbei. Die Nicht-Beruehrung tut dir gut. Nur nicht bewegen, lass mich einfrieren, lass mich zehntausend Jahre an dieser Stelle stehen und nimm mir jede Wichtigkeit. Deine Schritte hallen auf dem kalten Asphalt oder auch Pflaster. Kleine gruene Pflanzen kämpfen sich am Rande des Gehsteigs in die Sonne, doch sie erreichen das gelobte Land nicht mehr. Das Wasser fließt kalt und uninteressiert ewig die gleichen Wege und kümmert sich nicht um deine Plagen. Langsam wirst du ruhig. Deine wirren Gedanken werden langsam, und der Wind kühlt deine Gefühle. Dein Sehnen wird das eines Grabsteins, die Statuen werden zu guten Freunden. Lasst das Leben ruhen, nehmt mich mit in eure bewegungslose Existenz. Du gehst verharrend die Straßen entlang, kennst weder Eile noch Ziel, auf der Suche nach Ruhe und Frieden. Und dann wird Frust zu reiner Trauer und Trauer wird zur Ruhe, die Ruhe verwandelt sich zur Kraft und du stehst in der Mitte deines Lebens - und Kaelte wird zur inneren Waerme. Und du kennst die Seele des Herbstes.
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