Ich bin ja fasziniert von dem Gedanken, eine zutiefst wienerische Geschichte zu verfassen, die aber zugleich eine SF-Geschichte ist. Diese hier ist bereits ziemlich alt (10 Jahre nämlich, ich hab sie begonnen, als die Donau 2000, wenn ich mich nicht irre, wieder einmal über ihre Verhältnisse geflossen ist). Und wieso sollte ich sie nicht auch gleich weiter spinnen?
Ich schritt über den Behelfssteg, der seit Jahrzehnten die Reichsbrücke ersetzte. Eine Konstruktion, die immer wieder ausgebessert, immer wieder verstärkt worden war. Knapp an mir ächzten rostige Autos im strömenden Regen vorbei, erkämpften sich einen Weg durch die Masse an Menschen, die die Behelfsbrücke immer wieder an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachten. Ich sah nach links, wo der Leopoldsberg am Rande von Wien trohnt wie ein Wächter. In der Ferne funkelte die Floridsdorfer Brücke, die einzige intakte Brücke zwischen dem Südosten und dem Nordwesten. Seit Jahrzehnten wurde im Rathaus und in der Öffentlichkeit die Errichtung wenigstens einer weiterer Brücke diskutiert. Zweimal hatte es Aufträge gegeben, und einmal war eine Brücke zwischen der Reichsbrücke und der Floridsdorfer Brücke errichtet worden. Sie hatte noch nicht einmal einen Namen gehabt, als sie während des Baus in sich zusammenstürzte. Danach wurde sie nurmehr die „Brücke ohne Wiederkehr“ genannt. Millionen an Bestechungsgeldern waren von der Wirtschaft an die Politik geflossen, noch mehr Steuergelder aus der maroden Stadtkasse an dubiose Bauherren, von denen einer jetzt vergnügt irgendwo in Argentinien ein ruhiges Leben führen mochte. Weder er noch die Millionen, die er der Allgemeinheit hier noch schuldete, waren jemals zurückgekommen.
Ich ging weiter durch den Regen. Mein alter Ledermantel schützte mich unzureichend, die Wollhaube auf dem Kopf soff sich an, und bei jedem Schritt fühlte ich die Vibrationen, die Schwankungen des Stegs, der kaum zehn Meter breit die beiden Ufer der Donau miteinander verband. Hier kam man vom Regen in die Traufe, hieß es. Aber es war viel schlimmer. Der zweite und der zwanzigste Bezirk hatten ihre Kulturen, ihre Erben bürgerlichen Lebens, und bei allem Elend war dort die Zivilisation nach wie vor zu Hause. Das Riesenrad stand noch immer im Prater. Noch war man in Wien. Die jüdische Gemeinde florierte, trotz aller immer wieder aufflammender antisemitischer Tendenzen hielt sie sich wacker, und gab den beiden Bezirken Struktur und Halt. Der zweiundzwanzigste Bezirk aber war nicht ganz ohne Grund als der Arsch von Wien bekannt.
Vor mir erstreckte sich ein schwarzbraungraues Meer von Armenhütten kilometerweit über das linke Donauufer. Auch auf der anderen Seite gab es viele solche Behausungen. Die Obdachlosen nutzten jeden Winkel der Stadt, um irgendwo eine Bleibe zu errichten, um nicht den Unbillen des Wetters ausgesetzt zu sein. „Um zu leben“ war die beste Formulierung dessen, was sie anstrebten. Über acht Millionen Menschen, davon fünf Millionen Obdachlose, meist Analphabeten, bevölkerten das Wien des neuen Jahrtausends, und die Stadt konnte sie einfach nicht aufnehmen.
Ich wußte genau, daß Wien einmal eine prachtvolle Stadt gewesen war, ästhetisch, bezaubernd. Alte Photos zeugten davon, und man konnte die alte Pracht noch sehen, an manchen Ecken, mit viel Phantasie, und mit der Willenskraft, das Elend nicht sehen zu müssen. Ich wußte, daß Wien einmal zu den reichsten Städten dieser Welt gezählt hatte, auch kulturelles Zentrum Europas gewesen war, Hauptstadt der Musen. Jetzt war Wien nur mehr eine Hauptstadt eines überalterten, hoffnungslos überbevölkerten, hilflosen Kaiserreichs.
Die Donau stieg unaufhörlich. Eine Naturkatastrophe höchsten Ausmaßes war im Begriff, über uns hereinzubrechen. In Oberösterreich, Salzburg, der Steiermark und Niederösterreich waren hunderttausende in Fluten ums Leben gekommen. Besonders viele der Ärmsten, die bevorzugt an den Flüssen lebten, um wenigstens mit Wasser versorgt zu sein, wurden einfach mitgerissen. Unzählige schlampig und illegal errichtete Behausungen waren einfach in sich zusammengefallen. Auf der Donau waren normalerweise unzählige Fähren unterwegs, manche mit offizieller Genehmigung, andere, die von den meisten Menschen bevorzugt wurden, waren nicht mehr als bewegliche Hausboote, die den Besitzern ein kleines Zusatzgeschäft einbrachten. Demensprechend verhielt es sich mit den Sicherheitsvorkehrungen. Während die großen Fähren unter den Argusaugen der Beamtenschaft der Stadt Wien und auch des kaiserlichen Sicherheitshauptamtes korrekt die fünfzig Heller nahmen, die Maximalzahl an Passagieren einhielten, und die Sicherheitsbestimmungen beachteten, kam es nicht selten vor, daß viel kleinere Boote mit wesentlich mehr Passagieren schneller über die Donau fuhren, allerdings für zwei bis fünf Heller pro Person.
Jetzt aber waren kaum mehr Fähren unterwegs, denn die Donau war zu einem brutalen Strom geworden, der bereits jetzt Teile des zweiten Bezirks unter Wasser setzte, und erbarmungslos alles fortriss, wessen er habhaft werden konnte. Obwohl es die meisten Menschen vorzogen, zu Hause zu bleiben, war die Anzahl derer, die dennoch über die Donau wollten, groß genug, um die Brücke hoffnungslos zu verstopfen.
Das Kagraner Ende der Brücke war ein Fußballfeldgroßer Platz voller Schlamm. Von ihm konnte man zur Wagramer Straße gelangen, die ein paar Meter höher gelegen war, und einst hier in der Reichsbrücke ihre direkte Fortsetzung gefunden hatte – bis zu diesem denkwürdigen Tag, Anfang 1973, als über dreitausend Menschen mit ihr in die kalten Fluten gerissen worden waren. Es hieß, die Brücke sei zu sehr belastet gewesen, sie hätte den Massen nicht mehr standgehalten. Jetzt brandeten die Wassermassen gegen die Holzkonstruktion, die erstaunlicherweise bis jetzt gehalten hatte. Aber wie lange noch? Ich beschleunigte meine Schritte, um schnell die Brücke zu verlassen.
Bei diesem Wetter wateten hunderte Menschen fast Knöcheltief durch den Schlamm, der sich unweigerlich bildete und immer schlimmer wurde. Zahlreiche Fahrzeuge hatten sich festgefressen, und mindestens zwanzig Junge Männer warteten nur auf die Gelegenheit, gegen ein paar Heller helfend einzugreifen. Um präzise zu sein: Sie warteten auf alle Gelegenheiten, etwas Geld zu verdienen.
Auch ich mußte durch den Schlamm. Meine Gummistiefel kamen mir sehr zustatten, und ich hörte und spürte den Boden eher, als ihn zu erleiden. Hinter zahlreichen Rücken, verfolgt von ebensovielen Menschen, watete ich über den Platz, und versuchte, wie die meisten, einen möglichst trockenen Fußweg zu erreichen. Links von mir erstreckte sich ein Labyrinth von winzigen Hütten, dahinter befand sich die große Wiener Müllhalde. Irgenwann in den frühen Sechzigern hatte jemand die Idee gehabt, einen Park und eine Blumenschau einzurichten, aber die schon damals zahlreichen Elendsbewohner, die zum Gutteil von dieser Deponie lebten, fürchteten, dadurch um Lebensraum und Einkommen gebracht zu werden, und drohten mit Gewaltmaßnahmen gegen jeden, der diese Deponie beseitigen wollte. So war die Idee mit dem Park im Sande verlaufen. Ich hatte einmal einen Entwurf für einen „Donau-Turm“ gesehen, der den Park überragen hätte sollen. Ein Modernistischer Bleistift mit einem dicken Ende, soweit ich mich erinnerte. Jedenfalls war nichts draus geworden.
Bis zu den Knöcheln voller Schlamm, versuchte ich mich in den vielen Gäßchen zu orientieren. Max hatte zu mir gesagt, daß wir uns bei „Peter dem Raunzer“ treffen würde – jeder kannte diesen Platz, ich brauchte also nur zu fragen. Mir kam ein junger Mann entgegen, der ein Hemd und eine Stoffhose trug, und der sich durch eine Plastikplane über dem Kopf zu schützen versuchte. Ich sprach ihn an „Bittschän, wo ist der Peter der Raunzer?“ Er studierte mich kurz von Kopf bis Fuß, und machte dann den zu erwartenden Vorschlag „zwanzg Heller, daunn zag i das“. „Nein danke“ murmelte ich brüsk und wandte mich der Menge zu. Ein paar Meter weiter fragte ich den nächsten. Er wollte vierzig Heller. Ich versuchte es mit einer alten Frau. „Jo Marantjosef! Gengans weg mit den!“ rief sie und bekreuzigte sich, und eilte davon.
Ein junger Bub, etwa neun oder zehn Jahre alt, tat es dann für zehn Heller. Und viel mehr war ich nicht bereit, auszugeben. Wir liefen kreuz und quer durch das Elendsquartier. Es stank entsetzlich nach einer Mischung aus Verwesung, Schweiß, Exkrementen, Rauch, und anderen Elementen, die ich beim besten Willen nicht identifiziern konnte. Unzählige Menschen kamen uns entgegen, manche von ihnen starrten mich mit unverhohlener Gier an. Letztlich erreichten wir eine Hütte, die größer war als die der Anderen. Im Inneren standen zahlreiche Männer und ein paar Frauen rund um eine improvisierte Bar, und tranken aus weißen Plastikbechern. Ich war nicht erpicht darauf, zu erfahren, woher sie diese Becher, respektive den Inhalt, bezogen hatten. Noch weniger war mir danach, diesen Inhalt kennenzulernen, denn der Alkoholduft übertönte sogar den allgemeinen Umgebungsgeruch – aber genau das war in gewisser Hinsicht ja auch die Funktion des Etablissements. Aber ich war an dieser Bar ja nicht interessiert. Ich wollte zu Max. Er hatte gesagt „Die Hütte, gleich rechts daneben“. Und so klopfte ich an eine Tür mit abblätternder blauer Bemalung, und erst jetzt viel mir auf, daß es sich um eine der älteren Ziegelbauten in diesem Gewirr handelte, die etwas größer waren als die anderen. Max schien, was die Wohnstatt betraf, fast dem alten Adel hier angehören, denn dieser Bau war zweifellos ein Objekt der Begierde. Dennoch konnte und wollte ich mir nicht vorstellen, was Max dazu bewogen hatte, ausgerechnet hier Quartier zu beziehen.
Die Tür öffnete sich knarrend. Eine grauhaarige, gebückte alte Frau öffnete, und begrüßte mich mit den Worten „Bitte, gnä Herr, kummans eina. Der Herr Max is oben, wenns bitte weitakumman“. Ich folgte ihrer Aufforderung, und sah für einen kurzen Augenblick ihre Behausung, die aus einem Raum bestand. Etwa zwanzig Quadratmeter, blinde Fenster, ein alter Holztisch, übersäht von verschiedensten Textilien, daneben ein Teller und ein Metallbecher, offensichtlich hatte ich sie gerade beim Essen gestört. Ein Vorhang trennte einen Teil ab, der über ein Fenster hinten hinaus verfügte. Es schloss nicht ganz dicht, ich konnte einen leichten Luftzug spüren. Das Prasseln des Regens drang mühelos in den Raum vor, der Lärm der Bar brandete nur dumpf an die Fenster. Hinter dem Vorhang schien sich so etwas wie eine Küche und ein improvisiertes Badezimmer zu befinden. Insgesamt war die Hütte peinlich sauber gehalten, aber der Muff des alten Holzes und die Düsternis beherrschten das Interieur nachhaltig. Wir gingen den Vorhang entlang nach hinten, wo eine Holztür ins Freie führte.
Damit rechnend, naß zu werden, sah ich, daß ich mich immer noch auf einer überdeckten Terrasse befand. Links von mir führte eine Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Alte deutete mir weiterzugehen. „Do oman findens den Herrn Max.“, und wandte sich durchaus nicht unfreundlich ab. Ich stieg die knarrende Treppe vorsichtig hinauf – sie war steil, und das Geländer niedrig – und erreichte kurz darauf einen schmalen Balkon, mit einer offenen Tür. Ich mußte mich bücken, um einzutreten, aber dann stand ich in einem hellblau gestrichenen, erstaunlich hellen Raum, der eine Matratze, einen Schreibtisch, genau zwei Stühle, eine Kiste hinten im Eck, eine Waschschüssel, einen Spiegel und ein kurzes Bücherregal enthielt. Max saß auf einem der Stühle, hinter dem Schreibtisch, stand sofort auf, und kam zu mir, um mich zu begrüßen. „Hast du hergefunden?“ „Nein, ich hab zehn Heller bezahlt.“ „Oh je“ – er verzog schmerzhaft sein Gesicht. Aber dann nahm nahm er ein Hemd von dem anderen Stuhl, warf es auf seine Matraze, und bedeutete mir, Platz zu nehmen. „Wie lebt es sich?“ fragte ich ihn. „Eigentlich gut“ antwortete er. „Ich mache es mir natürlich leicht, weil ich quasi eine Luxusquartier bezogen habe“. „Darüber läßt sich streiten“ warf ich ein, und setzte hinzu „Mir wär es wirklich lieber, du tätest noch bei uns wohnen.“
Bei uns – das war ein altes Zinshaus in Ottakring, Küche/Kabinett, Klo am Gang, und Wasser in der Wohnung. Kein Luxus, aber wenigstens ein Teil der Annehmlichkeiten menschlicher Zivilisation. Max hatte eine Zeitlang im Nachbarhaus gewohnt, und ich konnte mich noch gut an seine kleine Wohnung erinnern. Die dreißig Quadratmeter waren ihm fast zuviel gewesen. Er hatte nie viel besessen. „Die wesentlichen Besitztümer sind da drin“ pflegte er zu sagen, und auf deinen Kopf zu deuten. Wenn er sagte, daß er im Überfluß lebte, war man im Allgemeinen versucht, das als einen zynischen Witz aufzufassen, aber wenn man ihn etwas besser kannte, verstand man bald, wie ernst er diese Worte meinte, wie ernst er das meiste meinte, was er sagte.
„Du weißt doch, ich bin wissenschaftlich hier.“ Max war wissenschaflich hier. Er schrieb an einer Dissertation über den Zusammenhang zwischen historischen Ereignissen und der Populationsentwicklung. Er war bereits Doktor der Biologie, Doktor der Mathematik, und hatte gerade Geschichte studiert. Ich war weder Mathematiker, noch Biologe, noch auch Historiker. Ich war ein durchschnittlicher Programmierer. Max wußte das, und erklärte mir stets alles so, daß ich es auch verstand. „Das interessante ist, daß der soziologische Mikro- und Makrokosmos sich in vieler Hinsicht ähneln. Mehr noch, manche Größen korrelieren ganz plump. Nirgends kann man die nackte Menschlichkeit besser studieren als hier.“ „Könntest du nicht den Tag über hier sein, und die Nacht bequem verbringen?“ fragte ich ihn, eigentlich bar jeder Hoffnung, er könnte doch noch zur Vernunft kommen. „Das geht doch nicht“ klärte er mich auf, als hätte er ein Kind vor sich. „Wie schon Heisenberg erkannt hat, beeinflußt der Beobachter stets das Experiment. Schau, ich komme hier her mit meinen vorgefaßten Meinungen und Einstellungen, und filtere jede Erkenntnis zu Tode. Wenn ich jemals die Wahrheit erkennen will, dann muß ich einer von ihnen sein. Ich muß mich selbst genauso dieser Situation aussetzen, wie die anderen ihr ausgesetzt sind. Wenn ich nicht jeden Tag mit ihnen durch den Schlamm wate, und mich, wie sie auch, frage, ob ich am Abend hungrig oder satt sein werde, und mich mit ihnen den Repressalien der Polizei aussetze, dann werde ich meine eigene Entwicklung nie aus dem Experiment herausnehmen können. Paradoxerweise ist die einzige Möglichkeit, den eigenen Einfluß wo herauszurechnen, die, sich selbst vermehrt einzubringen. Und deswegen muß ich hier bleiben, wenn ich jemals Erfolg haben will“.
Ich spürte, daß er recht hatte. Max nahm diese Sache sehr ernst. Und eigentlich tat ich das auch, aber während ich, wie alle anderen Menschen, die Probleme sah und über sie verzweifelte, hatte Max beschlossen, aktiv etwas beizutragen. Max war entschlossen, alles zu tun, was in seiner Macht stand, um der Überbevölkerung Herr zu werden. Dieser Bestimmung widmete er sein Leben. Ich hatte ihm meine Hilfe in Grenzen angeboten. Wie die meisten anderen Menschen war auch ich ein Freund der Bequemlichkeit und der Kompromisse im Leben. Nicht so Max. Er war mit einer eisernen Willenskraft gesegnet, neben einer hohen Intelligenz.
Einer weiteren Hoffnung folgend, fragte ich Max „Wie lange gedenkst du noch, hier zu beiben?“ „Das kommt sehr darauf an, wie schnell ich zu einem Ergebnis komme“, antwortete Max. „Solange es ein Elendsviertel hier gibt, sollte ich nicht aufgeben.“ „Mein Gott, willst du ewig dableiben?“ fragte ich schockiert. „Wer wird denn so pessimistisch sein?“ fragte Max zurück, „Traust du mir so wenig zu?“, und er grinste über beide Ohren, als ob er mich erwischt hätte. Und das hatte er auch, denn ich bemerkte erst jetzt, wie wenig ich an einen Erfolg glaubte, so sehr mir die Notwendigkeit seiner Bemühungen einleuchtete.
Eigentlich war ich ja gekommen, weil Max mich gebeten hatte, an einem Experiment teilzunehmen, von dem er sich viel versprach. Wir hatten uns im Hof der Universität getroffen, an einem der wenigen Orte, denen man das allgemeine Elend nicht ansah, und das, nachdem wir uns ein paar Monate nicht gesehen hatten. Er hatte mich sofort gefragt, ob ich ihm mit einem wichtigen Experiment helfen konnte, und ich hatte sofort zugesagt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Ahnung gehabt, wo er wirklich wohnte – hauste – aber ich hatte noch nie angenommen, daß Max irgendetwas selbstverständlich tat. Ich kannte seine Zielstrebigkeit seit Jahren, aber ich hatte eher erwartet, Max in einem Palais oder wenigstens einer Villa vorzufinden, etwa in Döbling, oder in Hietzing, wo unsereins eine schriftliche Einladung brauchte, um gewisse Stadtteile zu betreten. Doch es kam völlig anders.
Ich wollte Max gerade fragen, worin sein Experiment bestand, als Schreie von draußen zu hören waren. Ich dachte spontan an eine Keilerei, aber Max war schon dabei, das eine Fenster an der Stirnseite des Hauses zu öffnen, das ich vorher nicht bemerkt hatte – es war nur durch Fensterläden geschlossen gewesen. Wir beide sahen nach draußen. Max rief „Was is los?“, und ein wild gestikulierender, mittelalterlicher Mann von schmaler Statur, und mit tief eingegrabenen Gesichtszügen antwortete, wobei er durch den Zigarettenstummel in seinem Mundwinkel kaum behindert wurde: „De Bruckn. De Bruckn bricht zaumm!“. „Komm mit!“ stieß Max hervor, und stürzte aus dem kleinen Raum, ich hinterdrein. Wir sprangen mehr die Treppe hinunter, als wir kletterten, hielten uns nicht damit auf, durch das Haus zu gehen, sondern stürzten unter Maxens Führung die Hinterseite einer etwa zweieinhalb Meter hohen Ziegelmauer entlang. Irgendwo befand sich ein altes Tor, durch dieses gerieten wir auf eine kleine Gasse, die von Holzhütten gesäumt wurde. Unzählige Menschen befanden sich in dieser Schmalen Gasse, und immer mehr von Ihnen strömten in unsere Richtung.
Zahlreiche durchlaufene Kreuzungen und viele enge Gassen weiter öffnete sich das Elendsviertel zur Wagramer Straße hin. Ich sah das Ausmaß der Katastrophe momentan. Die Holzkonstruktion, die so lange gehalten hatte, neigte sich langsam flußabwärts, wurde noch von einigen starken Teilen gehalten. Viele Menschen trieben in der Starken Strömung rasch davon, viele hielten sich irgendwie fest, und versuchten, das Ufer zu erreichen. Der Fuß der Brücke war voll von Helfern, die den Glücklichen, die es noch rechtzeitig geschafft hatten, beim hinabklettern behilflich waren. Die Struktur ächzte und stöhnte, als versuche sie krampfhaft, das Unglück abzuwenden. Etliche Menschen hingen noch an der Außenseite, schrien, und warteten auf Hilfe. Immer wieder stürzten Gestalten in die Donau. An einer Stelle hing ein Auto gerade noch in der Seilkonstruktion fest, die die Brücke seitlich gesichert hatte. Die Insassen – eine Familie? zwei Frauen und ein Mann, offenbar der dünnen Mittelschicht angehörig, denn wer mochte sich sonst ein Auto leisten können? - waren gerade dabei, aus dem Fahrzeug zu klettern, als das oberste Seil mit einem lauten Knall nachgab, und der alte Fiat mitsamt den drei Insassen majestätisch in den Fluß klatschte.
Das Gefühl der Unwirklichkeit machte sich in meinem Kopf breit. Ich hatte den Eindruck, als sähe ich einen Film, der mich letztlich gar nichts anging. Ich sah Max losrennen, und lief wie ferngesteuert hinterher. Max erreichte den Fuß der Brücke, und sah eine Frau mit ihrem kleinen Sohn, die irgendwo im Gebälk saßen und wie versteinert hinunter starrten. Max kletterte hinauf in das Gerüst, warf sich den Buben über die Schulter, beruhigte die Mutter kurz, die im Übrigen nicht reagierte. Als er zurückkletterte, war ich schon da, um ihm das Kind abzunehmen, denn auch ich hatte meine Lähmung inzwischen überwunden. Der kleine schrie und bettelte, zu seiner Mutter gebracht zu werden, und ich konnte doch nichts tun, als ihn festzuhalten, und beruhigend auf ihn einzureden. Max war inzwischen wieder bei der Frau. Vorsichtig nahm er sie an der Hand, sicherte sie schließlich mit seinem Arm und bugsierte sie vorsichtig durch das Holzgerüst. Schließlich erreichten die beiden das Ufer. Die Mutter nahm wortlos ihren Sohn, und lief, ohne uns auch nur anzusehen, davon. „Das ist der Schock“ kommentierte Max. Dann kletterte er schon wieder auf die langsam kollabierende Brücke, und half den nächsten Kandidaten. Auch ich kletterte ein paarmal hinauf, aber ich konnte meine Angst kaum unter Kontrolle halten, geschweige denn der Kälte widerstehen, die sich meines Körpers bemächtigte.
Inzwischen waren offizielle Kräfte angelangt. Polizisten versuchten unbeholfen, die Menschenmenge zu organisieren, Feuerwehrleute kletterten, durch Gurte gesichert, auf die Brücke, und taten es Max gleich. Zahlreiche Helikopter kreisen über der Szene, etliche Reporter, aber auch zwei Hubschrauber der kaiserlichen Luftwaffe. Max war inzwischen dazu übergegangen, sich um die Geretteten zu kümmern. Etliche waren unbestimmbaren Grades verletzt. Max redete auf sie ein, und führte sie zu den ebenfalls inzwischen eingetroffenen Wagen des Roten Kreuzes. Aber man konnte leicht erkennen, daß die paar Ersthelfer mit der Masse der Verletzten nicht fertig werden konnte. Außerdem drängten nun immer mehr Menschen auf den Platz, einerseits Schaulustige, andererseits Bewohner des Elendsviertels, die hofften, ihre Angehörigen im Tumult zu finden.
„Komm besser mit“ rief Max mir zu, und ich folgte ihm, etwa hundert Meter die Wagramerstraße entlang. Immer noch regnete es in Strömen. Schließlich standen wir unter einem kleinen Vordach. Wir konnten die Brücke gut sehen. In dieser Sekunde wurden wir Zeugen, wie sich die Holzstruktur nach links beugte, und langsam ins Wasser fiel, mit sich hunderte Menschen und Fahrzeuge reißend. Ein Schrei des Entsetzens wogte über der ohnehin hysterisch lauten Menge. „Hier können wir nichts mehr tun. Verschieben wir das Experiment lieber. Du mußt jetzt über die Floridsdorfer Brücke nach Hause. Ich bring dich hin“ bot Max mir an. Wir gingen schweigend bis zur Alten Donau, um dem allgemeinen Geschehen auszuweichen, und bewegten uns schließlich auf der Straße, die die alte Donau entlangführt. Links und rechts erstreckte sich ein unübersichtliches Heer von Hütten, tausende Menschen gingen um uns herum ihren Geschäften nach. Die Gehsteige waren schwarz von Passanten und zum Teil von Straßenhändlern besetzt, die ihre kleinen Buden dort aufstellten, wo sie sich Geschäft erhofften. Wir wanderten die Fahrbahn entlang, wobei zahlreiche Fahrzeuge immer wieder knapp an uns vorbei fuhren. Ein paar Hunde versuchten, Essbares zu ergattern. Der Regen machte alle gleich. Wir wanderten stumm weiter.
Nach einer halben Stunde erreichten wir die Floridsdorfer Brücke. Auch sie war schwarz von Passanten und Fahrzeugen. Der Verkehr stockte ohnehin schon, aber dennoch strömten von allen Seiten immer mehr Fahrzeuge und Menschen auf die Brücke zu. „Ich will, daß du ein Taxi nimmst!“ sagte Max. "Es geht schon .." hub ich an, aber Max schien meine Reaktion erwartet zu haben: "Du nimmst ein Taxi! Du kannst den Schock nicht einschätzen. Glaub mir, du wirst es brauchen!" „Wann soll ich wieder kommen?“ fragte ich ihn. „Bald. Ich werde dich benachrichtigen.“ antwortete er. Und er zog drei Kronen aus der Tasche. „Das sollte reichen, um nach Hause zu kommen.“ meinte er, als er mir die drei Kronen in die Hemdtasche steckte. „Das ist zuviel!“ rief ich, aber er schüttelte den Kopf. „Nicht heute!“.
Ich war noch immer außerhalb meiner Selbst, aber langsam kroch Leben in meinen Geist zurück. „Tut mir leid wegen dem Experiment“ sagte ich. „Ich glaube, es gibt schlimmere Schicksale“ gab er zurück. „Außerdem ist das, was passiert, die Wirklichkeit. Das Leben ist Wirklichkeit. Unsere Pläne sind es nicht.“ Wir überquerten die Prager Straße. Max winkte einem Taxi, das auch prompt hielt. Mit den Worten „Wir sehen uns noch“ verschwand er in der Menge. Ich stieg in den alten Benz, der auch schon bessere Zeiten gesehen haben mochte, und schloß die Tür mit einem Knall. Ein paar Sekunden lang fühlte ich mich, als wollte ich in dieser weichen Polsterung einschlafen. Der Fahrer betätigte den alten mechanischen Taxameter, gab Gas, und fragte „Wohin da Hea?“ „Ottakring“ antwortete ich. Der Fahrer fuhr an, und bemerkte „Des wird oba laung. De Bruckn is vastopft.“ „Wurscht“ antwortete ich kurz, und er war zufrieden. Alle Fenster waren geschlossen, der Regen prasselte an die Scheiben und auf die Karosserie. Gedämpft drangen die Geräusche der Straße zu uns vor. Ein kaputter Auspuff sang das Lied vom Tod, der ganze alte Wagen vibrierte fröhlich, belästigte mich aber nicht über Gebühr. Im Gegenteil. Ich fühlte mich soweit geborgen und warm, während ich die Geschehnisse der letzten Stunden zu verdrängen versuchte.
Langsam schafften wir es durch den Stau auf die Kanal-Brücke, und ich fragte mich für einen Moment, ob diese wenigstens halten würde. Aber dann beschloß ich, etwas mehr Vertrauen zu haben. Wir stockten und standen die ganze Breite der Donau entlang. Viel zu hoch, viel zu schnell, strömten die braunen Fluten. Drüben, stromabwärts, sah ich, was von der Hilfs-Reichsbrücke übergeblieben war – nämlich nichts. Ich benutzte soeben die einzige Donaubrücke, die es in Wien noch gab. Wieder fuhr der alte Mercedes an, wich ein paar Holzkarren aus, steckte wieder irgendwo fest, bewegte sich weiter. Die Scheibenwischer verrichteten unverdrossen ihre Dienste. Dann, nach einer Viertelstunde, hatten wir es geschafft. Wir fuhren die Adalbert Stifter Straße entlang. Noch immer war der Verkehr dicht, tausende Fußgänger wälzten sich am Fahrbahnrand entlang, noch mehr auf den Gehsteigen. Die Luft wurde zunehmend schlechter. Aber hier gab es keine Elendsviertel. Dicht gedrängt säumten hastig errichtete Mietskasernen die Straße, im billigen Betonbau, Zimmer-Küche-Wohnungen, aber sie alle hatten Warmwasser und Elektrizität in den Wohnungen, Klo am Gang. Viele der Bewohner des Müll-Viertels drüben schleckten sich alle zehn Finger ab, wenn sie an so eine Wohngelegenheit dachten. Selbst in den alten Zinskasernen im Westen Wiens beneideten die Bewohner diese hier, weil die hastig geteilten Wohnungsfragmente der alten Zinsbauten nur allzu oft ohne Wasserleitungen auskommen mußten.
Wir näherten uns dem üblichen Gestank. Die Müllverbrennungsanlage am Donaukanal begrüßte uns mit einer grauen Wolke. Die Brücke zwang uns wieder fünf Minuten Wartezeit ab, und auch der Donaukanal führte schmutzig braunes Hochwasser. Die beiden Gerüche mischten sich zu einer perfekten Symphonie des Üblen. Die Kreuzung mit der Heiligenstädterstraße war die eigenliche Engstelle. Ich fragte mich stets, warum man die Brücke nicht einfach über die Heiligenstädterstraße verlängert hatte – wo doch schon eine Brücke da war, wieviel Aufwand wäre das wohl gewesen? Aber dem war nicht so. Das Taxi stand also quer über die Heiligenstädterstraße, trotzdem dem Chaos sowie dem Willen des Querverkehrs. So erreichten wir den Gürtel. Inzwischen hatte der Taxameter über eine Krone und achzig Heller erreicht, ich war also froh, daß Max so vorausschauend gehandelt hatte. Und dann überkam mich der Anflug eines schlechten Gewissens. Max hatte mehr beigetragen, und er mußte doch dorthin zurück. Warum war ich nicht ein wenig mehr für ihn dagewesen?
Aber schließlich war er es gewesen, der mich mit Bestimmtheit in das Taxi gesetzt hatte.
Wir rollten den Gürtel entlang, wobei der Fahrer den zahlreichen Schlaglöchern geschickt auswich. Der Verkehr war immer noch dicht. Der Straßenbelag umso weniger. An manchen Stellen lag das Erdreich zutage. Der Wagen rumpelte wie wild, während der Fahrer den Fahrbahnverlauf unter der Wasseroberfläche erahnte. Links von uns befand sich die Stadtbahntrasse, unter ihr die vielen Geschäfte, und noch mehr Holzbuden, die ihren Besitzern zum Arbeiten und Wohnen zugleich dienten. Rechts standen die zahlreichen alten Zinshäuser, die heute mehr denn je bewohnt wurden. Größere Wohnungen waren im Lauf der Zeit geteilt worden. Die meisten Familien mußten mit einzelnen Zimmern vorlieb nehmen. Ich hatte Glück. Ich konnte mir eine Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung für mich allein leisten. Damit gehörte ich zu den fünfzehn Prozent der Bevölkerung, die mehr als einen Raum für sich allein hatten.
Als wir meine Adresse erreichten, zeigte der Taxameter zwei Kronen und fünfundsiebzig Heller. Ich gab dem Fahrer die drei Kronen, bedankte mich, und stieg aus. Langsam wankte ich die Stiege hinauf in den dritten Stock, betrat meine Eckwohnung, und nahm eine heiße Dusche - welch ein Privileg in dieser Welt! Innerlich fühlte ich mich aber noch länger sehr kalt.
(to be continued)
ReserveBuddha - 3. Mai, 17:27